Aus dem Arabischen von: Leila Chammaa
Muhammad bin Hamad Haddad
gewidmet
Mit der einen Hand bahnte er mein Leben
und mit der anderen brachte er das Eisen der Zeit zum Glühen.
****
Schreiben will ich
und all die offenen Rätsel lösen.
Über Liebe sprechen, ist mitunter schöner als die Liebe selbst,
und das Herz zuweilen kaum halb so groß.
In der Hand halte ich nur einen Stern
am Himmel aber
funkeln unzählige Lichter.
Hier bin ich und lege Zeugnis ab
im Buch der Qualen.
Nun Kleiner,
wie willst du Muharrak festhalten in Tinte und Wasser?
Schreiben will ich
einen Text aus Worten, so sorgsam gewählt
wie der Name für das eigene Kind,
denn das Buch soll eine Zukunft bekommen.
*****
Kapitel 1
Wie einen Text über Muharrak zu Papier bringen?
Zuhause dort wie ein Schwert im Schaft,
ein Schwert, geschliffen von Meeresblau, zum Morgentau geführt.
Trifft diese Beschreibung auch wirklich meine Beziehung zu Muharrak, der Stadt, in der ich zur Welt kam und heranwachsend meine schönsten Jahre verlebt habe?
Wieso mir gerade dieses Bild vorschwebt, weiß ich nicht.
Doch zweifellos ist die Vorstellung von einem Schwert, das sich in seinem Gehäuse sicher fühlt, aus der Einsamkeit Zuversicht schöpft und sich jederzeit unerschrocken gewagten und lohnenden Herausforderungen stellt, eine Vision, die mir von Tag zu Tag besser gefällt.
Offenbar ist dies Ausdruck für eine heimliche Sehnsucht nach einer Welt, die nicht mehr besteht.
Zwar kenne ich etliche Städte mehr oder minder gut, habe aber das Gefühl, innerlich allein dadurch reich und erfüllt zu sein, dass ich die Menschen und Besonderheiten einer einzigen Stadt kenne. Einer Stadt, die alle Städte in sich birgt. Und ist man erst mit einem Ort wie Muharrak so eng vertraut, dann braucht man sich - glaube ich - nicht mehr viele andere Städte anzueignen.
In Muharrak habe ich - so kann ich getrost behaupten - fürs Leben gelernt. Gelernt durch eine Frage, die sich mir aufdrängte:
Wie nur soll der Text, die Biographie aussehen?
Darüber habe ich mir im Laufe meines Lebens und Schreibens noch nie Gedanken gemacht. Zwar habe ich mich viel und intensiv damit beschäftigt, eine Bibliographie eigener Texte zu schaffen, Biographisches aber stets gemieden.
Eine Biographie im herkömmlichen Stil zu verfassen, ist nicht meine Stärke. Nicht nur, weil es mich verunsichert und in Verlegenheit bringt, Persönliches preisgeben zu müssen, sondern vor allem deshalb, weil ich mich außerstande fühle, Ereignisse ihrer chronologischen Abfolge entsprechend wiederzugeben.
Die von Muharrak aufgeworfene Frage nach der Form des Textes schlägt jedoch ein neues Kapitel auf. Ein Kapitel, das ich bisher immer aufgeschoben hatte, und das wie eine eingesperrte Seele ungeduldig darauf wartet, endlich freigelassen zu werden.
Die persönliche Geschichte im Licht der übergeordneten, reicheren Geschichte Muharraks zu betrachten, ist ein Ansatz, für den ich mich begeistern kann, zumal ich bereits eine Reihe stilistisch und inhaltlich unterschiedlicher Texte solcher Art verfasst habe. So kann ich außerdem guten Gewissens behaupten, keine Autobiographie zu schreiben, sondern den Text, nach dem mich Muharrak in jenem lehrreichen Moment gefragt hat:
Wie nur soll der Text aussehen?
Alphabetisch geordnet trage ich die Menschen in das alte Personregister ein,
auf Kategorien wie Spott und Lob verzichtend
fange ich einfach an zu erzählen.
Erzähle all jenes, was dem Meer, stets auf Reisen, entgangen ist.
*****
Der Stadt Muharrak kann man sich auf unterschiedlichen Ebenen und aus verschiedenen Blickwinkeln nähern. Doch möchte ich hier vor allem auf das Weltbild eingehen, das ich als Kind mit auf den Weg bekam, und das mich persönlich, kulturell und in meinem künstlerischen Schaffen maßgeblich geprägt hat.
Ich erhebe keineswegs den Anspruch, alles niederschreiben zu wollen. Denn ich weiß nicht alles.
Doch eines kann ich mit Gewissheit sagen. Muharrak hat sich mir in zwei entdeckungsreichen Momenten enthüllt:
Zunächst als eine Stadt mit offenen Türen.
Und später als eine Werkstatt der Hoffnung.
Eine Werkstatt der Hoffnung nenne ich sie deshalb, weil die Stadt meiner Ansicht nach als System nur dann vollständig intakt ist, wenn sich rege menschliche Hoffnung an sie knüpft. Ein sozialhistorischer Blick zeigt, dass Projekte in unterschiedlichen Bereichen sich immer dann besonders erfolgreich entwickelten, wenn deren Betreiber von einer gewissen Energie erfasst wurden. Jener Energie, die als unsichtbares Feuer in dem unbändigen Verlangen nach Leben und Veränderung lodert und in einer immerwährenden kreativen Geschäftigkeit zum Ausdruck kommt. All das resultiert aus der Tatsache, dass die Stadt, soweit man ihre Geschichte zurückverfolgen kann, immer ein Ort des Aufbaus und der Vitalität war und ein Schmelztiegel praktischer Ideen. Muharrak ist, so wage ich zu behaupten, das fruchtbare Boden, also die Existenzgrundlage Bahrains, im wörtlichen wie auch übertragenen Sinne.
Offenbar hat die Stadt den vielen aufeinanderfolgenden Generationen jeweils passende Lebenskonzepte geboten.
Denn wie gesagt war sie ein Ort mit stets offenen Türen und eine Werkstatt der Hoffnung.
Diese besonderen Wesenszüge zu erkennen, waren für mich einschneidende Schlüsselerlebnisse, durch die ich unwillkürlich selbst Teil von Muharraks Alltag und Träumen wurde. Viele alteingesessene Bewohner der Stadt werden wohl im Großen und Ganzen wissen, wovon ich spreche.
Als ich klein war, standen hier die Türen immer weit offen. In den einfachen Vierteln herrschte ein Klima sozialen Miteinanders. Und so begegnete ein Kind – erst Junge, dann Jugendlicher, Erwachsener, alter Mann und schließlich Greis – keiner strikten Trennung zwischen dem Alltag und Lebensraum der eigenen Familie und dem der anderen.
Die allgemeine Aufgeschlossenheit, die sich in den offenen Türen spiegelte, erlebte ich auch auf etlichen anderen Ebenen. Bei uns zum Beispiel gingen – solange ich denken kann – immer viele Menschen ein und aus.
Zum einen war unser Haus ein sozialer Treffpunkt für Menschen unterschiedlicher familiärer, gesellschaftlicher und konfessioneller Herkunft aus allen Vierteln. Das geschah einfach nur aus dem Gefühl tiefer menschlicher Verbundenheit.
Zum anderen befand sich der schiitische Gebetssaal für Frauen in unserem Haus, der tagaus, tagein rege besucht wurde. Zu bestimmten Anlässen wurde der Raum auch von Männern genutzt. Daher trafen sich bei uns rund ums Jahr alle: Frauen und Männer, Jung und Alt. Aber auch Menschen anderer Konfessionen nahmen an den schiitischen Feierlichkeiten teil.
Außerdem waren die Männer in unserer Familie mit vielen ihrer Kollegen aus alten Zeiten befreundet. Mit ihnen waren sie einst nach Perlen getaucht oder zum Arbeiten nach Saudi-Arabien und in andere Golfländer gezogen. Mit einigen hatten sie zeitweise aber auch handwerkliche Berufe ausgeübt, zum Beispiel als Tischler, Schiffsbauer, Schmiede oder auf dem Bau. All dies trug dazu bei, dass wir einen recht herzlichen Umgang mit den anderen Familien pflegten und immer offenes Haus hatten. Und so hatte es sich eingebürgert, dass man sich zu Hochzeiten, Trauerfeiern und anderen Anlässen bei uns traf.
In dieser dynamischen Atmosphäre unterschiedlicher menschlicher Realitäten, Befindlichkeiten und Erfahrungshintergründe lernte ich bald ein äußerst reiches Gefüge sozialer Beziehungen kennen. Dabei wurde mir klar, wie wichtig und notwendig es im tieferen aber auch alltäglichen Sinne ist, sich innerhalb einer Gemeinschaft als Individuum entfalten zu können, gleichzeitig aber auch in einem lebhaften Austausch mit den anderen zu stehen. Denn jeder einzelne im Haus, ob Familienmitglied oder Besucher, hatte seine besondere Rolle, die er erfüllte, sehr genau darauf bedacht, die persönlichen Fähigkeiten deutlich hervorzuheben. Dies verhalf mir als Kind, den großen Wahrheiten - in einfachen und zugleich tiefgründigen Kontexten - auf die Spur zu kommen, zumal jeder gleichermaßen am sozialen Leben teilhaben und sich einbringen konnte, sofern er sich an die Regeln hielt. Grenzen oder Einschränkungen, die eine willkürliche Trennung zwischen Männern und Frauen schufen, gab es nicht. Das erklärt wohl auch, weshalb in unserem Haus, in dem unermüdlich gewirkt und gearbeitet wurde, eine angenehme, optimistische Grundeinstellung herrschte. Denn nichts ist schrecklicher als die Freude am Leben zu verlieren. So vital war die Stimmung unter uns, dass manche den Schlaf als verlorene Zeit betrachteten, weil er einen von der Arbeit abhielt.
Kapitel 2
Man kann fast von Glück sagen,
dass der Junge an seinem ersten Schultag verloren ging
(1)
Meinen ersten Unterricht bekam ich in der Koranschule, zunächst von einer Frau und dann einem Mann. Später besuchte ich drei reguläre Schulen, die Südschule, die Nordschule und die Hidaya-Schule. Und in den Ferien ging ich in die Sommerkurse, die Herr Abdallah Higazi, Englischlehrer an der Hidaya-Schule, bei sich zu Hause gab. Seine Wohnung lag über einem kleinen Schreibwarenladen, aus dem in den Fünfzigern bis in die frühen Sechziger jeder in Muharrak seine Schulhefte und Schreibutensilien bezog. Der Besitzer, Ali Abd al-Karim, Gott hab ihn selig, wohnte unweit von uns im Viertel Bukhamis.
Herr Higazis Sommerangebot bestand aus einem Mathematik- und einem Englischkurs, an denen man gegen eine symbolische Gebühr teilnehmen konnte. Seine Frau, Umm Walid, das weiß ich noch sehr gut, buk das köstlichste palästinensische Thymianbrot, das ich je gegessen habe. Bald darauf musste sie jedoch einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen. Ihr Sohn Walid kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, zusammen mit seinem Freund Ghassan, dem Sohn von Herrn Freija, ebenfalls Lehrer an der Hidaya-Schule. Dieser Vorfall hat seinerzeit die ganze Stadt erschüttert.
*****
Den Koran auswendig zu lernen, galt damals als elementare Grundausbildung für Kinder im Vorschulalter. Diese Tradition hatte eine Doppelfunktion: Zum einen sollte den Kindern ein gewisses Wissen vermittelt werden, zum anderen wollte man sie moralisch und sprachlich festigen, bevor sie ins Leben traten. Mit dem Islam, angefangen beim Koran, vertraut zu sein, stellte für viele in erster Linie eine religiöse Pflicht dar und war weniger weltlich motivierter Wissensdrang. So lernten die jungen Schüler, angespornt von der Tatsache, dass es ihre Eltern mit großem Stolz erfüllte, wenn sie auf diesem Gebiet besondere Leistungen erbrachten, den Koran oft um die Wette. War der heilige Text gut einstudiert, dann musste man ihn aus dem Gedächtnis rezitieren und sich so für das Abschlussfest namens khatma qualifizieren, dem Ritual, bei dem alle, die den Koran vollständig beherrschten, öffentlich gefeiert wurden.
Ich dagegen habe meinen Eltern nie die Freude bereitet, diesen Stolz zu empfinden. Denn im Auswendiglernen war ich zu keinem Zeitpunkt besonders gut, wahrscheinlich, weil es der kindlichen Natur sinnlicher Wahrnehmung widerspricht. Vom Koran habe ich mir also gerade einmal die elementaren Texte merken können, die man zum Beten braucht. Im Gedächtnis haften geblieben, sind mir außerdem noch ein paar Zitate, die mein Vater mit mir einübte, wenn ich ihn auf den Markt begleitete oder ihm an Winterabenden Gesellschaft leistete. Vor allem in den Nächten des Ramadan bestand er darauf, dass ich mich neben ihn setzte und ihm lauschte, wenn er aus den Koran rezitierte.
Die Schwierigkeiten, die ich hatte, waren kaum auf die traditionelle Lehrmethode zurückzuführen, zumal sich viele andere ja sehr wohl den Koran auf diese Weise angeeignet haben. Nein, ich hatte vielmehr unüberwindbare Abneigungen gegen das Auswendiglernen an sich, eine Eigenschaft, die mir bis heute anhaftet. Ich kann mir Texte einfach nicht merken. Und das erklärt wohl auch, wieso ich Gedichte nie behalten habe, nicht einmal meine eigenen.
Bei uns in der Familie wurde immer viel gelesen und memoriert. So rezitierte mein Vater, wie bereits erwähnt, den Koran in den Nächten des Ramadan und bei manchen religiösen Anlässen auch morgens. Meine Tanten dagegen lasen, wenn die Frauen im Gebetssaal bei uns im Haus zusammenkamen, Trauergedichte und Elegien zum Märtyrer Hussein, wobei sich alle zu diesem schmerzlichen Angedenken im Takt mit den Händen auf Brust und Bein schlugen. Jenem traurig melancholischen Rhythmus lauschte ich mit großer Begeisterung. Dennoch entwickelte ich nicht das Bedürfnis, die anderen nachahmen zu wollen, oder gar Freude am Auswendiglernen.
(2)
Als ich die Koranschule zum ersten Mal besuchte, war ich ungefähr vier Jahre alt. An jenem Morgen brachte mich meine Großmutter zu einem nahegelegenen Haus im Viertel Bukhamis. Eine Frau namens Amina empfing uns. Großmutter trat mit mir ein und gab mich bei Amina zum Koranunterricht ab. Im nächsten Moment war sie verschwunden, und ich saß mit vielen anderen Kindern aus dem Viertel, überdacht von Laubranken, im Garten auf einer Strohmatte. Alle hatten die Sure 78 mit dem Titel „Die Geschichte“ aufgeschlagen auf dem Schoß liegen.
Der Geborgenheit bei den Frauen zu Hause entrissen worden zu sein und mich plötzlich als eines von vielen Kindern in einer fremden Umgebung wiederzufinden, war eine unerwartete, existentielle Veränderung, die mir als eine Art Schockerlebnis sehr deutlich in Erinnerung geblieben ist. Von der neuen Situation zutiefst verunsichert, stotterte ich an jenem Morgen. Außerdem war mir die Kehle so trocken, dass ich immerzu trinken musste. Um mir den ständigen Weg zum Tonkrug neben der Küche zu ersparen, trug mir Frau Amina auf, in Zukunft eine Flasche Wasser von zu Hause mitzubringen.
Doch bald hatte ich mich eingewöhnt und tat es all den anderen Jungen und Mädchen gleich. Auf dem Boden sitzend wippte nun auch ich fast mechanisch mit dem Oberkörper unablässig vor und zurück und las dabei die vorgeschriebenen Passagen. So laut und durcheinander gingen unsere Stimmen, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte.
Derweil eilte Frau Amina unentwegt durch Hof, Zimmer und Küche und erledigte ihren Haushalt. Gleichzeitig verfolgte sie aber aus der Ferne mit äußerster Aufmerksamkeit alles, was gelesen wurde. Sobald sie fertig gewaschen, gekocht und geputzt hatte, setzte sie sich zu uns.
Diese Art von Koranunterricht beruhte auf freiwilligem, religiös wie auch gesellschaftlich motiviertem Engagement und wurde von den Eltern sehr unterschiedlich, vorzugsweise aber symbolisch, honoriert. Es kam zwar manchmal vor, dass jemand Geld dafür gab, doch in der Regel wurde nach persönlichem Ermessen mit Naturalien entlohnt. Erst am Ende, wenn das Kind den Koran vollständig gelernt hatte, erhielt der Lehrer zum Dank das sogenannte große Geschenk in Form von Geld.
Nach den ersten Leseschritten bei Frau Amina kam ich in eine andere Koranschule zu einem Lehrer namens Lahmidi. Diese Schule lag im Nachbarviertel, Suq Kharo, in der Nähe des Stationsviertels, wo auch die alte Bushaltestelle war. Nun befand ich mich noch weiter weg von zu Hause. Einen Großteil des Tages in einer fremden Umgebung zu sein, hatte auch sein Gutes. So fing ich schon früh an, mir die Welt draußen zu erschließen.
(3)
Um eine weitere Kindheitserfahrung anzuführen, die unmittelbar mit der Stadt Muharrak zusammenhängt, sei hier mein erster Schultag genannt. Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, brachte mich Großmutter zu der Schule, die hinter der Scheich Hamad Moschee liegt, der sogenannten Südschule. Außer dieser gab es seinerzeit in der Stadt noch die Hidaya-Schule und die Nordschule.
Zum ersten Mal so weit weg von zu Hause zu sein, kam einer Prüfung gleich. Es war schon ein seltsames Gefühl. Daher war abgesprochen, dass ich nach dem Unterricht von Großmutter wieder abgeholt würde. Als ich aber einen momentlang unbeobachtet war, stahl ich mich davon. Ich verließ das Gelände, noch bevor es zum Schulschluss läutete. Ich glaubte, selbständig heimgehen zu können. Doch dann verlief ich mich und irrte stundenlang umher. Am Abend fand mich meine Oma schließlich wieder, in einem Haus, in das ich zufällig tränenaufgelöst geraten war. Am ersten Schultag verloren gegangen zu sein, bracht mir offenbar Glück. Glück, das mich fortan begleitete, wohl bis zum heutigen Tag. Denn von der Schule ging ich noch vor Abschluss der Sekundarstufe ab. Und damit hatte meine Beziehung zu dieser Art Einrichtung ein für alle Mal ein Ende, worauf niemand wirklich stolz war.
Als ich verloren herumgeirrt war, fand ich vielen offenen Türen. Daher glaubte ich – wohl weil ich es in der Situation genau so empfunden habe – dass ich überall Zuhause sein könnte. Interessanterweise stellte sich im Gespräch mit meiner Großmutter später heraus, dass das Haus, in dem ich Zuflucht gefunden und ein Mittagessen bekommen hatte, einer alten Familienfreundin gehörte.
Die Sache mit den offenen Türen wird jeder bestätigen, der sich nur einmal an jene Zeiten zurückerinnert. Spazierte man damals durch die Stadt, so erlebte man etwas, das heute undenkbar geworden ist. Ausnahmslos alle Haustüren standen sperrangelweit offen. Und es war durchaus üblich, dass die Bewohner bei ihren Nachbarn frei ein- und ausgingen. Ein kleiner Rundgang durch die Viertel genügte, und man wusste, was es bei den einzelnen Familien an dem Tag zu Mittag gab. Besonders eindrucksvoll war jener Moment, wenn das Essen aufgetischt wurde. Denn dann kam es zu einem geschäftigen Treiben an den Türen. Die vollen Teller wurden auch zu den Nachbarn hinüberbalanciert.
Noch weitaus herzlicher war die Stimmung an Festtagen. Man schlenderte gemeinschaftlich oder auch allein durch Straßen und Gassen, zog den ganzen Tagen bis in die Abendstunden von Haus zu Haus, tauschte gute Wünsche aus und setzte sich zum Mittag- und Abendessen an die einladend gedeckten Tafeln, die Fortsetzung der offenen Türen. Diese beispiellose Tradition wird, fürchte ich, seit einigen Jahren nicht mehr gepflegt. Offensichtlich sind so einige menschliche Wesenzüge fast vollständig aus unserem Leben verdrängt worden.
Die Türen standen stets allen offen, als wir Kinder waren, überlieferte Spiele spielten und selbstverständlich Zutritt zu jedem beliebigen Haus hatten.
Nach und nach lernte ich Muharrak besser kennen, besonders dadurch, dass ich – noch recht jung - ins Arbeitsleben trat. So beispielsweise, als ich mich tageweise auf dem Bau zu dem üblichen Lohn von höchstens fünf Rupien verdingte. Viele meiner Altersgenossen arbeiteten in den Sommerferien in sehr unterschiedlichen Berufen. In jener Zeit gewann ich tiefen Einblick in die Philosophie der offenen Türen. Ich erfuhr, was es den Menschen bedeutete, dass ein zwölf- bis vierzehnjähriger Junge auf dem Bau arbeitet: Man wurde in den meisten Häusern aufgenommen wie ein Familienmitglied.
Richtig gut erschlossen habe ich mir die Stadt aber vor allem, als ich meinem Vater in der Blechschmiede aushalf. In jener Werkstatt verarbeitete er leere Blechkanister, in denen zuvor Datteln aufbewahrt worden waren, zu Dosen weiter. Meine Aufgabe bestand darin, die Kanister vom Markt heranzuschaffen, auseinander zu schneiden und die dabei gewonnenen ebenen Platten abzuwaschen. Aus diesen stellte Vater anschließend Dosen für eine besondere bahrainische Süßspeise her oder auch Haushaltswaren. Die fertigen Teile kamen in einen großen Jutesack, den ich mir auf den Rücken lud. Und damit zog ich los. Meine Tour begann im Norden der Stadt bei Yusuf Balluschis Süßwarenladen, direkt neben dem Geschäft von Buhayyal, Gott hab ihn selig. Danach ging ich in Richtung Süden zum Graschiya-Markt. Dort lag der Süßwarenladen von Butalib Omani, der mir immer ein paar Dosen abkaufte.
Bleibt nur noch der selige Hussain Schuwaitir zu nennen. Sein Laden im Zentrum des Marktes existiert nach wie vor, nur wird er heute von seinem Sohn Fuad geführt. Hassan Schuwaitir war der Hauptabnehmer von Vaters Dosen. Und dort, im bekanntesten Markt von Muharrak und wohl auch von ganz Bahrain, wurde ich mit der Stadt dermaßen eng vertraut, dass sie mich – so wage ich zu behaupten – seelisch und gesellschaftlich nachhaltig prägte. Sich einer Stadt durch ihre Menschen zu nähern, öffnet einem den Blick für ihre komplexen kulturellen Zusammenhänge und Hintergründe. In der Altstadt gab es nämlich so einige Persönlichkeiten aus dem einfachen Volk, die einzigartig und kurios, wie sie waren, eine Bereicherung darstellten. Allerdings bedarf es einer Menge Zeit und eines geeigneten Rahmens, um diese Originale in gebührender Weise zu charakterisieren.
Kapitel 3
Wohin wir gingen, wollte er wissen,
doch darauf hatten wir keine Antwort
1
Jahre später sollten ich erneut die Offenherzigkeit der Menschen in Muharrak erfahren. Das war während des Aufstandes von 1965, als wir uns Schlachten mit der Polizei lieferten. Auf der Flucht vor den Sondereinheiten, die uns mit Tränengas auseinander trieben, schlugen wir Demonstranten uns in die kleinen Seitengassen. Und dort erwarteten uns die Bewohner vor ihren Häusern mit feuchten Tüchern und geschälten Zwiebeln gegen den erstickenden Rauch.
Doch damit nicht genug. Sie stellten uns ihre Wohnungen Tag und Nacht zur Verfügung. Denn einige von uns wurden von der Geheimpolizei gesucht und schliefen deshalb nicht zu Hause. Und so verbrachten wir, offenherzig von den Bewohnern aufgenommen, jede Nacht in einem anderen Haus. Familien, die uns meist nicht persönlich kannten, boten uns selbstverständlich Kost und Logis. Mit ergreifender Fürsorge und Herzlichkeit wachten sie über uns wie über ihre eigenen Kinder. Die meisten wollten gern auch weiterhin von uns besucht werden. Einem Gastgeber im Süden der Stadt kamen sogar einmal die Tränen, als sich einer unserer Kameraden verabschiedete, nachdem er drei Nächte in seinem Haus untergekommen war.
„Wo geht ihr hin?“, schluchzte der Mann zitternd.
Dies konnten wir uns nur als die Anhänglichkeit eines nahestehenden Freundes erklären. Bei genauer Betrachtung der Frage, die von so viel Spontaneität, Arglosigkeit und Liebe zeugte, ist aber zu erkennen, dass darin im Grunde Muharraks frühe Besorgnis um Bahrains aufgeschobene Zukunft steckte.
Allerdings war die Frage an Personen gerichtet worden, die selbst noch auf der Suche waren, und denen daher weder deutliche Perspektiven noch klare Antworten vorschwebten.
Wer hätte da also den Anspruch erheben können, gewusst zu haben, wohin wir gingen?
Wir etwa, die – bis heute, also über drei Jahrzehnte später – ihren Weg immer noch nicht gefunden haben?
2
Bleibt noch die andere Ebene vorzustellen, auf der ich Muharrak kennen gelernt habe. Die zu beschreiben, kommt mir vor, als enthüllte ich flüchtigen Geistern einen verborgenen Schatz.
Gemeint ist der kulturelle Aspekt der Stadt, die ich gern auch eine pausenlos produzierende Werkstatt nenne. Dabei geht es mir vor allem um die soziologische Beschaffenheit, die den strukturellen Aufbau der Stadt bedingte. Muharrak besteht nämlich aus mehreren aneinandergrenzenden oder ineinander verschmelzenden Ortsteilen, die meist nach Handwerken benannt sind. Handwerke, die, soweit man die Geschichte der Stadt zurückverfolgen kann, stets unmittelbar mit dem Alltag der Menschen verbunden waren. Auffällig ist dabei, dass Muharrak genau für die Berufszweige berühmt ist, nach denen die bekanntesten Viertel benannt sind. Diese äußerst interessante Tatsache ist bisher noch gänzlich unerforscht. Daher wäre zu wünschen, dass sich Soziologen und Anthropologen einmal genauer mit diesem Phänomen befassen.
Die besagten Viertel heißen zum Beispiel Banna’in (Maurer), Sagha (Goldschmiede), Hidada (Schmiede), Hayyak (Weber), Qalalif (Schiffbauer) etc. Bezeichnenderweise galten genau diese Ortsteile auch mir immer als Schauplätze des praktischen Lebens. Nicht nur, weil sie aufs engste mit dem Alltag und Unterhalt unserer Familie verwoben waren, sondern auch deshalb, weil ich die meisten dieser Tätigkeiten eine zeitlang selbst ausgeübt habe. Dabei ist mir bewusst geworden, wie unzertrennlich diese Berufe mit dem Leben der Menschen in Muharrak seit eh und je verbunden sind, seit es diese Stadt gibt, und seit man hier Perlenfischerei und Bootsbau betrieben hat. Außerdem habe ich erkannt, dass manche Berufe miteinander zusammenhängen, so zum Beispiel Schmieden und Schiffbau.
Auch auf dem Gebiet der Architektur hat Muharrak so manches vorzuweisen. Die Stadt hat einige bedeutende Baumeister hervorgebracht, die übrigens aus den Vierteln Hidada, Hayyak und vor allem aus Banna’in stammen. Als hervorragende Baumeister und Stuckateure haben diese eine Reihe bekannter Gebäude nicht nur in Muharrak, sondern auch in Manama, Hidd und Rifa errichtet. Eine dieser Koryphäen ist der selige Ahmad Mel, den ich sogar persönlich kannte, da mein Vater mit ihm befreundet war. Dank seiner hervorragenden Fähigkeiten, haben ihn, laut Vaters Erzählungen, die Oberhäupter der herrschenden Familie von Rifa extra zu sich geholt, damit er an dem Bau ihrer Häuser und Paläste mitwirkte. Während der Arbeiten musste er, so heißt es, über lange Phasen in Rifa bleiben, da es seinerzeit kaum Verkehrsmittel gab. Ahmad Mel und seinesgleichen haben meiner Ansicht nach Wesentliches zur Entwicklung der Baukunst als traditionelles Handwerk geleistet, nicht nur im ökonomischen, sondern auch im künstlerischen Sinne. Dies wird besonders deutlich, achtet man nur einmal darauf, welche alten Bauwerke seit einigen Jahren saniert werden: nämlich genau jene, die Hadsch Ahmad Mel und seine Kollegen aus Muharrak einst errichtet haben.
Begegnet man heute Ahmad Mels Kindern und Enkeln, erkennt man sie als solche unschwer auf den ersten Blick an ihrer hohen schlanken Statur. Geerbt haben sie von ihm auch die besonderen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Baukunst. Der beste Beweis dafür ist, dass eine der herausragenden Personen, die seit etlichen Jahren im Auftrag der archäologischen Abteilung im Informationsministerium die Sanierung alter Gebäude leitet, Ali Mel heißt. Mit ihm verbindet mich eine alte Freundschaft, die in jene Zeiten zurückreicht, als wir bei den Aschura-Prozessionen gemeinsam durch Muharrak gezogen waren. Seinerzeit hatte sich Ali einen Namen als bekanntester Anführer der sogenannten Kettentruppe gemacht, jener Gruppe von Männern, die sich aus Trauer um den Tod des Märtyrers Hussain im Gehen mit Ketten auf den Rücken schlagen. Als Sohn von Ahmad Mel ist Ali auffällig schlank und hoch gewachsen. Zudem ist er im Viertel Banna’in dafür bekant, dass er seinen Beruf ungewöhnlich gewissenhaft, akkurat und voller Hingabe ausübt. Daher war es mir eine große Freude, Anfang der sechziger Jahre eine Weile unter seiner Leitung auf dem Bau zu arbeiten. Das fällt ungefähr in den gleichen Zeitraum, in dem ich auch oft bei Abdallah bin Isa Haddad, auch Meister der Schmiede genannt, gearbeitet und eine Menge gelernt habe.
So viele abwechslungsreiche Erfahrungen gemacht zu haben, verdanke ich meinem Vater. Bei all jenen Menschen, denen ich damals begegnete, stieß ich auf einen wertvollen Schatz an Wissen, Feinsinn und Ethik. Durch sie habe ich Erkenntnisse gewonnen, die mir sonst verschlossen geblieben wären. Diese Erfahrungen haben sich mir dermaßen tief eingeprägt, dass ich mir bis heute viele Situationen und Personen fast vollständig vergegenwärtigen kann, die weit in jene Zeit zurückreichen, in der ich eine bewusste Beziehung zu Muharrak aufzubauen begann. Wir waren im wahrsten Sinne des Wortes eine Familie.
Unvergesslich ist mir beispielsweise ein entsetzlicher Vorfall, der sich eines morgens vor meinen Augen abspielte. Ich stand an der Südseite der Hidaya-Schule auf dem Bürgersteig kurz vor der Kreuzung, von der die Straße zum Flughafen abgeht. Plötzlich sah ich, wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Haus, in dem Bauarbeiter am Werk waren, zusammenbrach. Die obere Etage stürzte ein, und Männer kamen schreiend herausgestürzt. Die Arbeiten leitete Musa bin Hamad, ein bekannter Baumeister der Stadt. Etliche Männer kamen in den Trümmern ums Leben. Ein paar von ihnen kannte ich. Zu den Verunglückten zählte auch Musa bin Hamads Sohn.
Das Haus, ein Altbau, hatte, so weit ich mich erinnere, dem Künstler Ahmad al-Gamiri gehört. Südöstlich davon stand das Haus des Lehrers Atiq Said, Gott hab ihn selig. Und das lag wiederum dem der Familie Schitti gegenüber.
Der Hauseinsturz und der Tod der Arbeiter hatte mich so tief erschüttert, dass mir in einem fort lautlos die Tränen liefen und ich schließlich vom Schuldirektor nach Hause geschickt wurde. Seelisch und körperlich angegriffen musste ich noch einige Tage im Bett bleiben. Ich spürte regelrecht am eigenen Leib, was die Verunglückten erlitten hatten. Immerhin kannte ich sie zum Teil. Und vielleicht hatte ich mit dem einen oder anderen sogar auch einmal in den Sommerferien gearbeitet.
Genau wie das Haus brach auch ich in mir zusammen.
Der Vorfall hatte alle in der Gegend schockiert.
So blicke ich nun auf meine Beziehung zu dieser Stadt zurück und kann sagen, dass ich sie auf meine besondere Art kenne.
3
Da ich Muharrak, eine in ihrer sozialen und politischen Gegenwartsgeschichte pulsierende Stadt, in allen Facetten vorstellen möchte, darf ein wichtiger kultureller Aspekt nicht unbeachtet bleiben. So neugierig interessiert, wie ich mich als Kind auf den Alltag einließ, lernte ich viele für diese Stadt typische Redewendungen kennen und schätzen. Tagaus, tagein hörte ich von meinem Vater, meiner Großmutter und anderen Personen Sprüche, Beispiele und Weisheiten. Und die merkte ich mir sofort, wissbegierig wie ich war, zumal mein Wissensdurst sich vor allem in intuitivem Wahrnehmen und Aufschnappen äußerte und weniger in Form von systematischem Lernen. Und so habe ich mir im Laufe der Zeit einen reichen Schatz an Aussprüchen angeeignet, die ich im täglichen Leben nun selbst spontan und unbewusst anwende. Auf die Redensarten haben mich schon oft Freunde angesprochen, insbesondere, wenn sie ihnen neu waren. Manche notieren sich die Sätze sogar vor lauter Begeisterung an ihrer Bedeutung und ihrer Eigenschaft, komplexe Inhalte scharfsinnig und prägnant auf den Punkt zu bringen. Auch mich hat schon immer ihr genialer Aufbau, ihre geistreich spritzige Rhetorik, ihr Witz und ihre Ausdruckskraft fasziniert. Daher habe ich sie mir auch leicht merken können und beim Schreiben so manches Mal sprachlich und stilistisch aus ihnen geschöpft.
Kapitel 4
Vom König von Hira zum ratlosen König
Verbindungen und Botschaften
(1)
Der Name „Muharrak“ geht – wie ich gerne erzähle – auf einen der Könige von Hira zurück, einer Dynastie, die in der vorislamischen Zeit über diese Region herrschte. Besagter König wurde al-Muharrik, Brandleger, genannt, weil er sich seiner politischen Gegner entledigt haben soll, indem er sie verbrennen ließ.
Diese Erklärung ist nicht unbedingt glaubhaft. Doch keine andere, mir bekannte historische Auslegung finde ich poetisch so schön wie diese.
Vielleicht ist dies Ausdruck für meinen tiefen Wunsch, Verbindung mit Tarafa bin al-Abd aufzunehmen, über allen historischen Dunst hinweg, den dieser berühmte Poet durchschritten hat; und um gegenwärtig zu bleiben ebenso wie sein wunderbarer Vers:
Einst Zeitgenosse der Könige von Hira
erlebe ich nun die Ära der ratlosen Könige.
Seit ich diese Stadt bewusst wahrnehme, habe ich das Gefühl, sie fuße auf einer Art Höllenofen. Einem ewigen Feuer, das sich immerzu wandelt und verändert. Muharrak kommt mir vor wie der Inbegriff des unermüdlichen Bemühens, etwas zu schaffen, das die Menschen nie wirklich zu fassen bekommen haben. Unzählige Schiffe wurden hier gebaut, und mit den meisten fuhr man auf hohe See, über unergründliche Tiefen.
Sich das Meer aber zu erklären, haben nur die Verrückten und die Dichter versucht, etwa so:
Mal kriegerisch, mal tintenblau,
aber immer ist es grenzenlos weit.
*****
In der Gegenwartsgeschichte gewann Muharrak politisch als erste Hauptstadt Bahrains an Bedeutung. Muharrak, eine Insel, hatte ursprünglich keine Verbindung zum Festland, was sich jedoch in Jahr 1942 mit dem Bau der Scheich Hamad-Brücke änderte. Davor konnte man nur mit Booten und Schiffen nach Manama, der gegenwärtigen Hauptstadt, und zu der kleinen, vorgelagerten Inselgruppe gelangen.
Die Menschen hier sind geprägt von der maritimen Natur. Ihrem Wesen nach sind sie meist unkompliziert und umgänglich, aber auch entschlossen und arbeitsam. Typisch für sie ist neben dem stark ausgeprägten Gemeinschaftssinn ihr ausgesprochen rebellischer Geist. Letzterer Eigenschaft verdankt die Stadt wohl auch den besonderen Beinamen, der ihr in den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts anhaftete. Muharrak wurde seinerzeit im Volksmund auch Port Said genannt. Die ägyptische Stadt hatte im Rahmen des Suezkriegs nämlich jenen berühmten Aufstand gegen die britische Armee ausgefochten. Und so gaben die Menschen als Zeichen ihres Selbstbewusstseins ihrer Stadt den Namen Port Said, zumal sie Muharrak ebenso wie Bahrain als ihren Hafen zur Welt begriffen.
Im Laufe der Jahrhunderte hat die Stadt beachtliche Veränderungen durchlebt: Mit dem Regime des vorislamischen Königs von Hira, al-Muharrik, über kämpferische Phasen im Wandel der Zeit hin zur Ära des ratlosen Königs Salih.
(2)
Bei einer solchen, stets aufgeheizten politischen Geschichte treten unwillkürlich weit auseinanderklaffende Gegensätze auf.
In prahlerischem Stolz, wenn nicht gar leidenschaftlichem Übereifer, haben wir uns seinerzeit mit Port Said gleichgesetzt. Was uns mit jener Stadt verband, war der Unabhängigkeitskampf gegen dieselbe Kolonialmacht, nämlich die britische. Außerdem teilten wir neben der Begeisterung für dieselbe politische Führungsfigur, Gamal Abdel Nasser, den gleichen Traum:
Die Freiheit.
Ein Traum, der nach wie vor besteht.
Angesichts des großen Enthusiasmus, den man in Muharrak Gamal Abdel Nasser entgegenbrachte, entstand bisweilen der Eindruck, die Menschen hier fühlten sich als Teil der ägyptischen Stadt Port Said und wollten dem Namen, mit dem sie sich schmückten, alle Ehre machen. Also bereiteten sie dem britischen Premierminister, Sloin Lloyd (Robert Anthony Eden), als er Bahrain im März 1956 besuchte, einen für die Briten unvergesslichen und für die lokale Herrschaft unverzeihlichen Empfang.
Als der britische Premier auf dem Flughafen von Muharrak landete, erwarteten ihn die Staatsmänner bereits. Der offizielle Konvoi konnte, um zu Muharraks Brücke zu gelangen, nur eine einzige Straße benutzen, und die führte durch den Markt. Die Autos erreichten also zwangsläufig die Kurve, von der die Scheich Hamad Straße abgeht. Und genau vor Abd al-Qadirs Café, dem bekanntesten Kaffeehaus im Markt, mitten auf der Kreuzung bei der erhöhten Plattform mit dem großen Sonnenschirm für Straßenpolizisten, kurz vor dem Abzweig zur Brücke - kamen die Fahrzeuge ins Stocken. Aufgebrachte Menschenmassen hatten sich dort zusammengerottet, um dem verantwortlichen Politiker ihren Unmut unmissverständlich kundzutun. Unmut über die britische Kolonialherrschaft im eigenen Land und Unmut über die britische Politik gegenüber der Revolution von Abdel Nasser. Bewaffnet mit Steinen, Stöcken und allem, was sonst noch zu greifen war, stürzten sich die Massen auf das Auto, in dem Robert Anthony Eden saß.
Damals, ich war acht Jahre alt, hatte mich mein Cousin Isa mit auf die Straße genommen. Und es sollte meine erste Lektion in politischem Protest werden.
Die Demonstranten, unter denen viele Arbeiter waren, hatten sich auf höchst ausgefallene Weise für dieses Ereignis gewappnet. Sie trugen ihre Arbeitsschuhe, Schuhe mit Stahlkappen, die ihnen am Arbeitsplatz in der Erdölfirma als Schutz dienten. Die Idee, so zu erscheinen, war ihnen gekommen, als sie hörten, was die Fußballspieler planten. Diese hatten vor, ihre seinerzeit berühmtberüchtigten Fußballschuhe mit harten Kuppen zu diesem Anlass anzuziehen. So gerüstet wollten sie die Fahrzeuge des offiziellen Konvois malträtieren.
Daran erinnere ich mich deshalb so deutlich, weil es ein denkwürdiger Tag war, vor allem aber, weil ich alles aus der Perspektive eines noch nicht ausgewachsenen Jungen sah. Eines Jungen, der sich in dem dichten Gedränge ängstlich an seinen Cousin klammert und gebannt die Bilder verfolgt, die sich in dem kleinen Ausschnitt vor seinen Augen abspielen: langsam vorbeifahrende Autos, Füße in festem Schuhwerk, die mit voller Wucht und lautem Getöse auf die Fahrzeuge eintreten, tiefe Dellen, die in der edlen Karosserie zurückbleiben. Ein Szenario, das mir noch lebhaft in Erinnerung ist.
Als die aufgebrachte Masse vorwärts drängte, hob mich mein Cousin besorgt vom Boden und stellte mich auf eine Bank, die parallel zur Straße vor Abdel Qadirs Café stand. Von dort konnte ich die vielen Menschen besser überschauen. Ein Einblick, der etwas Bedrohliches für mich hatte.
Nur schleppend und unter Schwierigkeiten kam der Konvoi vorwärts. Die Polizisten waren außerstande, die Demonstranten zurückzudrängen und den britischen Gast samt seiner Begleiter zu schützen. die Bewohner sahen in dem Staatsmann, der mitten durch die Innenbezirke ihrer Stadt fuhr, einen Eindringling, dem sie unverhohlen ihre Feindseligkeit zum Ausdruck brachten. Immerhin befand sich Bahrain 1956 auf dem Höhepunkt seiner nationalen und panarabischen Aufstände. Allein schon die Tatsache, dass der Konvoi Muharrak hatte passieren müssen, brachte die Regierung in eine prekäre Lage mit ungewissem Ausgang. Offenbar wollten die Menschen dem britischen Staatsmann einen Denkzettel verpassen. Sie behinderten seine Fahrt durch ihre kleine Stadt, um ihn an die britische Bedrängnis im Port Said zu erinnern.
Muharraks Bewohnern mangelte es damals keineswegs an Phantasie, politischem Witz und bissiger Ironie, mit denen sie als einfache Leute auf einen übermächtigen Staat reagierten, der ihr Land kolonisierte. Vielleicht wie Menschen, die sich in Trauerkleidung auf eine Hochzeit begeben.
Muharrak machte sich über seine politischen Gegner mit einem unvergesslichen Galgenhumor lustig. Und das machte wohl den politischen Widerstand in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer Geschichte voller Freude gepaart mit einem gewissen Aufopferungsgeist, frei von persönlichen Interessen und egoistischen Beweggründen.
Damals besaßen die Menschen nichts, das sie hätten verlieren können.
Manche gingen sogar ins Gefängnis als statteten sie Vater Staat einen Besuch ab.
*****
Kapitel 12
Ein blauer Gast, der durch das Haus wandelt
und von Frauen mit Feuer beworfen wird
Kaum begann ich mich aus den häuslichen Mauern hinaus zu bewegen und die Stadt Muharrak zu erkunden, begegnete ich überall dem Meer. In Bahrain - wie ich später entdecken sollte - vor allem aber in Muharrak, eröffnet sich der berückend azurne Horizont am Ende jeder Straße. Denn hier beginnen und enden alle Wege mit dem Meer, jeden Tag aufs Neue.
Von welchem Punkt man in der Stadt auch Ausschau hält, immer trifft der Blick auf das Meer, das dort harrt. Wie ein blaues Wesen schaut es jedem an jeder Ecke wartend entgegen.
In dieser Vertrautheit liegt wohl eines der schönsten Geheimnisse begründet, das die besonderen Eigenheiten der Menschen hier und ihre Einstellung zur Welt und dem Dasein ausmacht.
Jenes blaue Wesen ist so tief im Alltag Muharraks verankert, dass es nicht nur Lebens- und Arbeitsweise prägt, sondern eine Art physische Notwendigkeit darstellt. Für die Bewohner der Stadt ist es unerlässlich, mindestens ein Mal am Tag ans Meer zu gehen und ihm einen Liebesbeweis zu erbringen. Gründe für einen Gang dorthin gibt es unzählige. Wenn es nicht wegen der Arbeit oder dem Beruf ist, nicht, weil man angeln, sich erholen oder entspannen will, oder um ein Verkehrsmittel zu nutzen, dann erfindet man eben einen Anlass. Man gibt beispielsweise gern vor, sich vergewissern zu wollen, ob es auch wirklich noch da ist.
So unzertrennlich eng ist die Stadt mit dem Meer verflochten, dass wir fest glauben, Muharrak sei seine auserwählte Freundin. Hier gibt es kaum eine Familie, die nicht irgendeinen Bezug zur See hat.
Immer wird das Meer da sein.
Früher einmal war es sogar ein allgegenwärtiges Wesen für uns. Diejenigen, die einst am Dorf- oder Stadtrand in einem Haus mit direktem Blick aufs Wasser gelebt haben, erinnern sich noch deutlich daran, wie es sie jeden Monat als willkommener Gast besucht hat. Die einfachen Häuser unmittelbar an der Küste waren meist aus Palmblättern gebaut. Und weil das Meer den Menschen so vertraut war, gab es keinen Grund, es nicht selbstverständlich einzulassen, wann immer ihm danach zumute war und ohne, dass es sie vorher um Erlaubnis bitten musste. Der erwartete Zeitpunkt dafür war damals stets der Beginn eines jeden arabischen Monats. Dann trat nämlich bei Flut das Wasser sehr viel weiter über die Ufer als gewöhnlich. Die Springflut am Monatsanfang, die ich selbst vor allem im Sommer erlebt habe, nannte sich „Neumondwasser“. Denn der extreme Wasseranstieg hing mit dem Neumond zusammen, der die arabischen Monate einläutet. Liebevoll sagte man auch kurz „das Wasser ist gekommen“, wenn es aufs Land geschwappt war und sie als Gast in ihren ärmlichen Hütten beehrte. Es war also durchaus üblich, dass die Küstenbewohner erwachten, weil sich etwas Seltsames im Hof regte sowie in den Wohnräumen, deren Wände meist aus Palmblättern, teils aber auch aus Lehm bestanden. Das Wasser stieg in den Hütten so weit, dass sämtliche Gegenstände vom Boden abhoben und durch die Zimmer trieben. Auch die Matten aus Palmblättern und die Matratzen wurden vom Wasser erfasst, dann aber rasch zusammen mit dem gesamten Hausrat an einen sicheren Ort gebracht, damit nichts beschädigt oder gar weggespült wurde, wenn die Wellen sich wieder heimwärts zurückzogen. Da die Wände aus Palmblättern von sich aus undicht, also für Wind und Wasser durchlässig waren, konnten die Wellen sanft herein- und herausschwappen, ohne Katastrophen anzurichten. Naturverbunden, wie die Menschen damals lebten, widersetzten sich nicht den Launen des Meeres oder seinem Wunsch, mit ihnen auf das Leben anzustoßen. Verständnisvoll empfingen sie es als ihren Gast und opferten ihm gern Zeit und Raum. Schließlich wussten sie, dass es nur von vorübergehender Dauer war und das Meer nach wenigen Stunden wieder heimkehren würde. Wahrscheinlich betrachteten sie die Tatsache, dass es bei ihnen einkehrte, als eine großzügige Geste, ihre Besuche zu erwidern. Immerhin waren sie das ganze Jahr über seine Gäste - zum Vergnügen, zum Fischfang, auf Seefahrt, Reisen oder auch nur, um sich mit ihm zu brüsten.
Die Überschwemmung galt den Küstenbewohnern als ein erfreuliches, Segen bringendes Ereignis. Denn die Flut bescherte ihnen erheblich mehr Fisch als sonst. Und so nutzten die Kinder – wie mir noch lebhaft in Erinnerung ist – die Gelegenheit, um auf eine besonders raffinierte Art Fische zu fangen. Dazu holten sie ein Gefäß aus dem Haus und bedeckten es mit einem leichten weißen Tuch, das in der Mitte ein Loch hatte. Ein paar Brotkrumen oder Teigstückchen hineingelegt stellten sie es am Strand im seichten Wasser auf, und bald hatte sich das Gefäß mit kleinen Fischen, einer Sorte namens Mid, gefüllt.
Mit unerschöpflicher Kreativität bauten die Jungen an Muharraks Küste kleine Boote aus alten Blechtonnen, ein paar Stücken Holz und etwas Pechresten vom Straßenbau. Zum Einsatz kamen diese Fahrzeuge bei den Feierlichkeiten, die in den Phasen der Springflut zu Ehren des Gastes veranstaltet wurden. Von nachmittags bis in die späten Abendstunden tummelten sich dann an den Stränden Jung und Alt.
In jenen Tagen mischte sich die See unter die Menschen.
Die Grenze zwischen dem Meer und den Häusern, samt Betten und Esstischen war dann regelrecht aufgehoben. Wir hatten unseren Spaß mit dem Meer, das aber sein Spiel mit uns auch manchmal etwas zu weit trieb. Auf jeden Fall hat es uns bei der Gelegenheit alle Gegenstände gewaschen, die wir zum Leben brauchen. Bei den Dingen allerdings, die wir ihm nicht zur Reinigung bringen konnten, warteten wir eben ab, bis es zum Spülen großzügigerweise zu uns kam. Zugang zur Stadt hat es sich dabei durch jede, zur Küste hin offenen Stelle verschafft. Und dann herrschte das Meer als König über Zeit und Raum.
Der Umgang mit der Flut war Ausdruck einer tiefen Verbundenheit zwischen Mensch und Meer. Das enge, tagtägliche Miteinander zeugte von einem geheimen Einvernehmen zwischen den beiden. In Anbetracht dieser seit Ewigkeiten bestehenden Beziehung drängt sich mir manchmal der Eindruck auf, die Menschen hätten in dem Meer ein vernünftiges Gegenüber gesehen. Ein Wesen, das Verständnis für sie aufbrachte und sich ihrer Gefühle ihm gegenüber bewusst war. Über die Rolle des Menschen in dieser Beziehung treffen einige Riten, die sich auf das Meer bezogen, so manche Aussage.
Von tiefer symbolischer Bedeutung war beispielsweise jener Brauch, bei dem Frauen sich in der Tauchsaison, wenn ihre Männer zum Perlenfischen monatelang von Zuhause fort waren und sie sich vor Sehnsucht nach ihnen verzehrten, mit ihren Sorgen ans Meer wandten. In melancholischen Liedern klagten sie ihm ihr Leid vom endlos langen Warten.
„Führ sie heim, lass sie die Segel setzen und führ sie heim“, baten sie die See singend um Hilfe.
Je länger die Trennung andauerte, desto gereizter wurde die Stimmung unter den Frauen, bis sie schließlich in Zorn umschlug. In ihrer Wut auf das Meer, weil es ihre Bitten nicht erhörte, nahmen sie Rache. Sie tauchten brennende Palmwedel hinein, setzten das Meer also sinnbildlich in Brand. Offenbar wollten sie damit auch demonstrieren, dass sie ihr gutes Recht geltend machten. Das Recht, sich über einen lieben Freund ärgern zu dürfen, der um die Qualen ihrer Sehnsucht wusste, sich aber nicht im geringsten darum scherte.
Das hatte mythologischen Gehalt. Mythologie begleitet die Menschen nämlich auf diesen Inseln seit Urzeiten. Daraus haben sich jedoch später – insbesondere im Zeitalter des Perlentauchens – folkloristische Praktiken entwickelt, die Ausdruck im Lebens- und Arbeitsalltag sowie im Verhältnis zur Natur fanden. In diesen Zusammenhang gehört beispielsweise auch, dass Frauen einst dem Meer Gelübde ablegt haben, so etwa, wenn jemand allzu lange auf Reisen fort war, jemand erkrankt oder dem Ertrinken entronnen war. In solchen Fällen wurden dem Meer besondere, speziell für diesen Zweck zubereitete Speisen als Opfergabe dargebracht mit der Bitte, es möge sich doch der betreffenden Person annehmen, sie heimführen oder heilen.
Zutiefst beeindruckend war auch jener Brauch, bei dem Scharen von Kindern an die Küste gingen, bei sich kleine, aus Palmblättern geflochtene Körbe, in denen junge Getreidepflanzen wuchsen. Liebevoll und in tagelanger Geduld hatten die Kinder sie gezogen, um sie am letzten Abend vor dem Opferfest als ihre grüne Gabe ins Meer zu werfen. Diese Tradition voller Fruchtbarkeitssymbolik spiegelt die komplexe Beschaffenheit der Beziehung zwischen Menschen und Meer. Eine sehr spannungsreiche Beziehung, bestimmt von den mythologischen Vorstellungen, die auf den besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen der hiesigen Gesellschaft basieren.
Einen Akt, mit dem Witwen die Trauer um ihren jüngst verstorbenen Mann rituell beendeten, habe ich noch lebhaft in Erinnerung. Am letzten Tag einer viermonatigen Trauerzeit, die jene Frauen zurückgezogen und in völliger Abgeschiedenheit von fremden Männern verlebten, galt ihr erster Gang aus dem Haus dem Meer. Vollkommen bedeckt machten sie sich am frühen Abend im Schutz der Dunkelheit allein auf den Weg wie zu einem Stelldichein. Sie liefen ins Wasser, tauchten ganz ein, spülten sich so die Trauerzeit vom Körper. Offenbar sollte das Meer einziger Zeuge und Komplize dieser reinigenden Waschung sein. War dieses Ritual vollzogen, nahmen die Frauen den normalen Alltag wieder auf, wohl dann erst bereit für ein neues Leben.
Dieses Schauspiel, das ich häufig beobachtet habe, hatte für mich etwas Rätselhaftes. Eine andere Erklärung als, dass es sich dabei um ein Bad handelte, hatte ich nicht. Jahre später erst erkannte ich, dass das Meer Wunder wirkt, eine Tatsache, die mir als kleinem Jungen damals verschlossen war.
Eine weitere Gabe, die das Meer auf diesen Inseln bereithielt, waren die vielen verborgenen Süßwasserquellen in Küstennähe. Zu ihnen machten sich die Menschen auf, sobald die Ebbe einsetzte und das Festland weit ins Meer gewachsen zu sein schien, um Wasser zu schöpfen.
Hart war das Meer nicht, nur im Sinne der natürlichen Gefahren, die das Leben damals mit sich brachte. Und die sind vergleichbar mit dem, was man in modernen Zeiten „Berufsrisiko“ nennt. Erschwernisse dagegen, die beim Perlenfischen auftauchten, rührten weniger vom Meer als vielmehr von den begleitenden Faktoren wie etwa von den Unternehmern solcher Tauchfahrten, den Schiffsbesitzern und Perlenhändlern.
Das Meer an sich aber ist friedlich in Zeiten von Harmonie und stürmisch in Zeiten von Krieg.
*****
Kapitel 17
Ein panischer Kapitän
ist der sicherste Führer ins Verderben
1
Stürmische See. Wellen. Berge von Wasser fallen übereinander her, treiben das Schiff in den Wahnsinn. Dichte Wassermassen zischen durch die Nacht und überfluten das Deck. Gegenstände werden auf dem Schiff hin und hergeschleudert. Ein zerfetztes Segel, in sich verknotet, vom Wind gepeitscht und gezerrt. Nicht mehr unter Kontrolle der Matrosen, die in sämtliche Richtungen flüchten, sich wahllos an alles klammern, was sie zu fassen kriegen. Jede Unebenheit auf Deck wird im Angesicht des Todes zum verheißungsvollen Rettungsring.
Der Kapitän erteilt Befehle, brüllend in Angst, verbreitet nur noch mehr Schrecken auf dem Planeten Schiff. Einen unbeherrschten, panischen Kapitän können Schiff und Matrosen nicht brauchen, denn der ist in einer solchen Situation der sicherste Führer ins Verderben.
Im Nu schwand unser Gefühl, gut aufgehoben zu sein auf jenem Schiff. Einem Schiff, so riesig, dass es auch „Festland“ genannt wurde. Stabil und großzügig gebaut, fuhr es sicher zur See und bot den Matrosen viel Platz und Komfort. Nun aber war es schwächer als eine Feder im Wind. Nur noch ein Spielball der gewaltigen Brecher konnte es seinem Namen nicht mehr gerecht werden. Im diesem erbarmungslosen Unwetter unterstand alles der Gnade des Meeres: Mensch, Holz, Metall.
„Ich bin jetzt groß, ein richtiger Mann“, erinnerte ich mich, einmal zu meinem Vater gesagt zu haben. „Also kann ich jetzt mit dir auch zur See fahren.“
„Hör zu!“, hatte er geantwortet. „Für das Meer kann man nicht groß genug sein. Das Meer ist nämlich größer als alles andere. Diese Erfahrung muss aber jeder für sich machen.“
Wie weise diese Worte waren, habe ich jedoch erst jetzt begriffen.
„Während man selbst Wasser nie zu fassen bekommt, hat das Meer den Menschen sehr wohl im Griff. Wir waren in einen Sturm geraten, der das Schiff allmählich auseinander riss wie ein spielendes Kind sein Papierboot. Der Sturm verschonte nichts, alles konnte augenblicklich irgendwo zwischen Wind und Meeresgrund enden. Nur der Mast war noch fest in der Schiffsmitte verankert, schwang unablässig hin und her wie ein Pendel in der Leere. Ein dünner, nackter Pfahl, von dem lauter Seile herabhingen wie Schlangenzungen. Weit oben noch die kläglichen Überreste eines Segels. Unwillkürlich weckte es die Assoziation an einen Mann, der in den Krieg zieht und den Abschiednehmenden rettungssuchend winkt, was aber als Zeichen seiner festen Kampfentschlossenheit gedeutet wird.
Unruhig, hektisch pendelte der Mast hin und her, während wir uns fragten, wie es käme, dass er sich so stabil halten kann. Doch dann erhellte ein Blitz für einen kurzen Moment das Deck und ließ erkennen, dass an den Sockel ein Mann gebunden war.
Da begriffen wir, weshalb der Mast so wacker aufrecht stand. Er bewachte seine Geisel. In jener schrecklichen Situation, in der die Katastrophe das Schiff ergriff und ausnahmslos alle ins Auge gefasst hatte, hing noch ein Mann einsam am Mast. Arme und Beinen gefesselt flogen seine Augen unruhig umher wie Vögel, in panischer Angst vor dem Sturm, der durch den brennenden Wald fegt. Ein Wald, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Der Mann ist das letzte, was mir aus der Zeit vor der Sturm noch in Erinnerung ist. Er verbüßte eine Strafe, und keiner von uns wagte es, ihn loszumachen. Wir war zusammen dort. Ich kannte ihn, und er sah mich. Beide schlotterten wir bei dem stürmischen Szenario im Angesicht des Todes.
2
Die Augen gerötet und die Hände zitternd erzählte mein Vater mit zurückgehaltenen Gefühlen und erstickter Stimme. Er wirkte so als müsse er eine schlechte Nachricht überbringen und würde dies am liebsten jemandem anders überlassen. In ihm rangen zwei Gefühle, das Glück, so reiche Erfahrungen gemacht zu haben, und der Schmerz, darüber zu sprechen.
Er verstummte kurz und holte tief Luft wie ein Taucher, der soeben aus großen Tiefen aufgestiegen ist.
Ich betrachtete sein Gesicht, und ein Gefühl von Mitleid erfasste mich. Gerade setzte ich an, ihm zu sagen, er solle die Sache doch vergessen und über etwas anderes sprechen. Aber im selben Moment winkte er ab als verwerfe er den Gedanken. Er zündete sich eine Zigarette an und hielt sie zwischen seine mageren von einem uralten Gelb verfärbten Finger gepresst. Einen kurzen Augenblick sank er gedankenverloren in sich ein, richtete sich aber schnell wieder auf.
„Wie kann man jemanden fesseln und ins Meer werfen“, murmelte er wie leise vor sich hin, „und gleichzeitig von ihm verlangen, dass er nicht ertrinken soll?“
Ob er noch wisse, wie der Mann hieß, der an den Mast gebunden war, brachte ich endlich die Frage über die Lippen, die mir die ganze Zeit schon auf der Zunge lag. Vorwurfsvoll schaute er mich an, wie ich nur so eine ungehörige Frage stellen könne. Doch im Nu lächelte er wieder.
„Namen spielen keine Rolle“, seufzte er bitter als brenne ihm ein Feuer auf Lippen und Augen. „Jeder hätte dort stehen können. Der Mast war eine Antwort auf alles.“
„Aber im Sturm“, wandte ich ein, „wo alle gleichermaßen vom Tod bedroht sind, hätte man den Mann da nicht besser losbinden sollen, damit er das Schiff retten hilft?“
Er schrak auf als hätte ihm der Gedanke einen Stich versetzt. Schließlich wollte er vor einem Grünschnabel wie mir nicht das Bild abgeben, kaum oder gar nicht zur Rettung des Schiffes beigetragen zu haben.
„Auf solche Gedanken ist damals keiner von uns gekommen. Wir waren es nicht gewohnt, die Courage aufzubringen und solche Überlegungen anzustellen. Wer an den Mast gebunden war, hatte es in unseren Augen auch verdient, und stand außerhalb der Kategorie von Leben und Tod. Ja, er existierte nicht mehr. Wer am Mast hing, gehörte nicht mehr zur menschlichen Gemeinschaft, sondern unterstand der Macht des Mastes und war somit auch Teil dessen Schicksals. Die Strafe musste bis zum Ende verbüßt werden, egal wie. Wer das Gesetz des Tauchens übertreten hatte, musste sich wohl oder übel der Weisheit des Windes fügen“, schloss er, mich mit seinen geröteten Augen fixierend wie um sich zu vergewissern, dass ich ihm recht gebe.
Ich war aber nicht imstande, meinem Vater eine heilsame Antwort zu geben. Denn er wollte das Leid, das er als Taucher erfahren hatte, partout nicht vergessen. Stattdessen vergegenwärtigte er sich die Geschichten unablässig so deutlich als spielten sie sich in dem Moment vor seinen Augen ab. In dieser Situation zog er mich mit seiner faszinierenden Geschichte dermaßen in Bann, dass ich mich dagegen nicht wehren konnte. Denn sie weckte unwillkürlich Assoziationen an das, was ein Freund von mir einmal im Gefängnis erlebt hatte. Er war unter den Augen der Mithäftlinge im Gefängnishof an die Tür gefesselt worden, weil er nachts schreiend aus einem Alptraum geschreckt war. In panischer Angst zu verdursten hatte er nach Wasser gebrüllt. Er hatte geträumt, er sei tot. Und aus seiner aufgebahrten Leiche seien Unmengen von winzigen Kreaturen herausgekrochen, die kaum geschlüpft, ihre Flügel ausbreiteten und davonflogen. Diesen Alptraum erklärten wir uns damit, dass das Gefängnis in der Wüste lag, wo es an diesem Lebenselixier mangelte. Für den Gefängnisaufseher war das nächtliche Brüllen aber ein klarer Gesetzesverstoß. Und wer die Regeln übertrat, musste, dieser Logik folgend, zusätzlich bestraft werden. Also wurde jener Freund an die Tür gefesselt. In der Mittagshitze befiel uns Mitgefangene ein elendes Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung, denn wir konnten unseren Kameraden nicht losmachen. Hinzu kam, dass uns die Kehlen wund waren vor Durst.
Als ich nun von der Szene auf dem Schiff hörte, musste ich sofort an meinen gefesselten Freund denken. Wir waren zusammen dort. Ich kannte ihn, und er sah mich.
3
Muharrak ist nicht nur helllichter Tag, sondern auch tiefdunkle Nacht. Nächte, in denen man gesellig beisammensitzt und sich endlos viele Geschichten erzählt. Nur selten haben die Geschichten nichts mit dem Meer zu tun. Ganze Chöre von Erzählern scheinen der See unablässig zu entsteigen, so voll sind die abendlichen Stunden von Meerespflanzen, Fischen und Geschöpfen, die aus den Tiefen aufsteigen, durch Muharraks Gassen wandeln als Begleiter der Helden und als szenische Ausschmückung der Geschichten.
Auch mein Vater war ein wunderbares Beispiel dafür.
Er war einer jener Männer, denen es so viel Spaß machte, vom Meer zu reden, dass er am liebsten gar nicht mehr aufhören wollte. Die Winterabende bestanden früher aus zwei Teilen. Am frühen Abend spielten wir draußen im Freien, und bevor wir zu Bett gingen, saßen wir noch eine Weile bei unserem Vater und lauschten seinen Geschichten vom Meer. Da er sie erschaffen hatte und selbst darin vorkam, hatte er das alleinige Recht, ihr Ende je nach Beliebe abzuändern.
Vater wendete die Glutstückchen im Kohlenbecken vor sich und vergrub Kastanien in der heißen Asche.
„Es ist nun an der Zeit, den Winter zu begrüßen, damit es später nicht heißt, wir hätten zu lange gewartet und seien nicht bereit gewesen für die heftigen Regenfälle, die auf uns niederprasseln wie Gottes Zorn.“
Im letzten Jahr hatte ihm ein Meteorologe erzählt, dass der Astrolab verrückt spiele. Infolgedessen seien die Jahreszeiten durcheinandergeraten, weshalb nun auch der Winter verspätet einbrechen würde. Es hieß, der Winter würde sich in diesem Jahr nirgends mehr blicken lassen.
Vater hörte, wie die Kastanien der heißen Asche erlagen und die Schalen mit einem angenehmen Knacken aufplatzten. Das Geräusch erinnerte ihn daran, wie sie einst auf dem Deck ihres Schiffes Muscheln aufgebrochen hatten, eine Erinnerung, die ihm so lebhaft vor Augen schwebte als würde sich die Szene jetzt abspielen.
Das „Jetzt“ war dabei nicht nur eine adverbielle Bestimmung der Zeit, sondern ebenso des Ortes.
Wo das Meer Herr über Zeit und Ort ist.
Vater stocherte in den Kohlen und holte eine Kastanie aus der orangeglühenden Asche. Während er sich ein wenig vorbeugte und sich den wollenen Überwurf um den Körper schlang, packte er die Kastanie mit festem Griff und schälte sie. Gleichzeitig begann er jene Geschichte zu erzählen, die er liebend gern zum besten gab, kaum dass sich die Gelegenheit dazu bot. Dieselbe Geschichte, die mich immer wieder so sehr beeindruckte wie beim ersten Mal.
*****
„Alles war friedlich. Ich hielt die Leine, an deren anderem Ende mein Bruder, Salih, gebunden tief im Meer tauchte. Das war bei den Perlenfischern eine durchaus übliche Tradition. Waren zufällig zwei Brüder an Bord desselben Schiffes, dann mussten sie zusammenarbeiten. Einer tauchte, und der andere hielt die Leine. Das machte man so, damit Verantwortungen klar zugeordnet waren.
In der Nacht zuvor hatte ich nicht schlafen können, ohne dass ein bestimmter Grund dafür vorlag. Daher fühlte ich mich an jenem Tag elend müde und schwach. Ich hielt also wie gesagt das Seil in Händen und bemerkte, geistesabwesend wie ich war, nicht den erwarteten Ruck. Nach seinem ersten Tauchgang wollte mein Bruder nun wieder nach oben und hatte als Zeichen kräftig an dem Seil gezogen. Wie aus heiterem Himmel hatte ich plötzlich eine Ohrfeige im Gesicht, die so heftig war, dass ich fast ohnmächtig umfiel. Mit voller Wucht stieß mich dann der Kapitän von meinem Platz und holte in Windeseile die Leine ein. Zu meinem Entsetzen wurde mir klar, dass ich eingenickt sein musste, just in dem Augenblick, als Salih um Hilfe bat und hochgezogen werden wollte. Kaum war sein Kopf aufgetaucht, schlug er wild um sich wie ein Fisch, der wieder ins Wasser gelassen wurde. Er gab Laute von sich, die kaum einem Menschen zuzuordnen waren. Es klang wie Schluchzen, Röcheln, Wiehern und ein Wutausbruch zugleich. Eilig hievten ihn die anderen an Deck. Er konnte es kaum fassen, dass er noch am Leben war.
Ich trat beiseite, beobachtete, was vor sich ging, unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Salih wäre fast umgekommen, und das wegen mir.
Wir wechselten kein Wort miteinander.
Nur eines brachten wir noch zustande. Wir fielen uns gegenseitig um den Hals, so heftig, dass es ausgesehen haben musste als würden wir uns prügeln wegen etwas, das nicht geschehen war. Der Kapitän würdigte uns keines Blickes. Er schleuderte mir nur mit ausdruckslosen Augen das Seil ins Gesicht. Und im nächsten Moment saß er auf seinem erhöhten Platz und gab sich dem Tabak hin und rauchte. Keiner wagte sich in seine Nähe, nicht einmal sein Gehilfe.
Die Mannschaft verlebte eine Nacht in banger Vorahnung der Strafe, die mir dafür bevorstehen würde.
Ich beobachtete ihn die ganze Nacht hindurch. So waren wir, die keinen Schlaf fanden, zu zweit: Der Kapitän und ich.
Am Morgen nach einer Dattel und einem bitteren Kaffee rief er mich unwirsch zu sich. Er fixierte mich eine Weile.
„Er ist dein Bruder, Muhammad“, sagte er dann. „Was würdest du tun, wenn einem anderen dieser Fehler unterlaufen wäre?“
Das war eindeutig keine Frage. Er fasste lediglich die fiebrigen Zustände in Worte, die ich die ganze Nacht hindurch ausgestanden hatte, genauso wie er.
Ein Stammeln war alles, was ich hervorbrachte. Und er verstand, dass ich die Strafe annehmen würde, die ich in seinen Augen verdiente. Er stierte einen momentlang vor sich hin. Dann rief er seinen Gehilfen.
„Führe Muhammad an den Mast“, wies er ihn an.
Bei dem Befehl schraken einige Matrosen entsetzt zusammen. Am meisten aber bangte Salih, und so stürzte er, während ich dem Gehilfen zum Mast folgte, zum Kapitän.
„Er ist mein Bruder“, schrie er. „Hier, ich bin unversehrt, mir ist nichts passiert. Ich vergebe ihm. Es gibt also keinen Grund, ihn zu bestrafen.“
Der Kapitän lächelte entgegen seiner Gewohnheit.
„Ja, er ist dein Bruder, aber nur bei euch zu Hause. Hier dagegen haben seine Fehler Konsequenzen für alle. Du magst ihm vielleicht vergeben, aber das Meer verschont niemanden.“
Als Salih daraufhin zu mir schaute, hatte man mir bereits ein Seil um den Körper geschlungen und mich fest an den Mast gebunden. Die Männer traten auseinander, und jeder machte sich wieder an seine Arbeit. Drei volle Tage blieb ich an dem Mast, bekam nur Wasser und Datteln. Protestieren konnte ich nicht. Denn Herr ist auf Tauchfahrten nicht etwa der Kapitän. Nein, er sitzt mit allen anderen im selben Boot und ist derselben Gefahr ausgesetzt. Herr ist vielmehr das Meer.
In jenen mondbeschienenen Nächten, als das Meer so friedlich dalag und die Kameraden alle im Brunnen des Schlafes tauchten, bemerkte ich ein geheimnisvolles, auf dem Wasser tänzelndes Licht. Nur Salih saß schlaflos neben der Feuerstelle, wendete die träge brennenden Kohlen, damit die Glut mit uns wachte in der stillen Dunkelheit auf dem Schiff. Im Feuer stochernd stellte er sich den Mast wohl kleingehackt als Brennstoff für den nächsten Winter vor. Doch der Winter blieb aus. Er zeigte sich einfach nicht, mein Sohn.“
4
An dieser Stelle der Erzählung angelangt hatte mein Vater bereits einen kleinen Haufen Kastanien geschält. Da sich die Fingerkuppen dunkel verfärbt hatten, schaute er suchend nach der Wasserschüssel, um sich die Hände zu waschen.
„Hier“, schob er mir die geschälten Kastanien lachend herüber, „knabbern sollst du die Dinger wie eine kleine Maus. Die sind alle für dich. Du weißt ja, ich habe die Zähne nicht mehr, die man dafür braucht. Das Meer hat mir nämlich alles genommen, mein Sohn. Alles.“
Ich hätte auf diese Geschichte gefasst sein müssen, um ihn fragen zu können, wieso er diese Kreuzigungsszene immer wieder erzählen musste und dabei eine Begeisterung an den Tag legte als habe er es geschafft, sich den Dorn aus der Fußsohle zu entfernen, der ihn gehindert hatte, sich durch das Leben zu bewegen. Eine Begeisterung, die ihm das Gefühl gab, wie eine Feder in einer winddurchwehten Säulenhalle zu schweben.
Ich musste eine etwas ruhigere Gelegenheit abpassen, damit mein Vater in seiner Rolle als Verlierer, in der er gerade steckte, sich nicht an der Person rächte, die sich seiner Geschichte vom unbändigen Meer in den Weg stellte.
Wäre ihm etwas mehr Lebenszeit vergönnt gewesen, dann hätte ich ihm gewiss die Frage gestellt. Vielleicht hätte ich mit ihm zusammen herausgefunden, wieso er seine Gefühle verdrängte. Gefühle, die mit dem Vorfall zu tun hatten, bei dem er an den Mast gefesselt worden war. Allmählich wurden mir nämlich diffuse Aspekte meiner Kindheit deutlich, in der mein Vater zum Teil unverhältnismäßig hart vorgegangen war. Vielleicht begriff ich jetzt, viel zu spät, wieso mich mein Vater damals so brutal für einen Fehler bestrafte, zu dem mich mein jugendlicher Leichtsinn verleitet hatte.
5
Als ich an jenem Mittag von der Schule heimkehrte, fand ich zu Hause eine bedrückte Stimmung vor. Meine Mutter stellte mir fürsorglich das Essen hin, das ich heute noch vor mir sehe wie ein Stillleben. Denn ich konnte, angesichts eines seltsamen Unbehagens, das mich befiel, weder Brot noch Kichererbsen anrühren. Die anderen starrten mich mit ängstlich mitleidigen Blicken an und wandten die Köpfe immer wieder zu jenem Holzpfeiler. Im Hof war ein Pfeiler aufgestellt worden, von dem ein Seil hing, lang genug war, um neun Personen zu hängen und mit dem Rest Wasser aus einem neun Meter tiefen Brunnen zu holen.
Als ich in die Nähe meines Vaters kam, der an der Stirnseite des Zimmers thronte, verschanzt hinter drückendem Schweigen wie immer, wenn er zornig war, spürte ich sofort, dass eine Katastrophe drohte. Und genau wie ein schuldbewusster Sünder erkannte ich, dass der Pfeiler für mich bestimmt war und das Seil an diesem herrlichen Tag um niemanden anders als mich gelegt werden würde.
Nachdem mein Vater sich vergewissert hatte, dass ich nichts mehr essen würde, stand er auf und packte mich am Arm, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Er zog mich zu dem Pfeiler, stellte mich davor und band mich mit dem Seil daran fest. Ich ließ alles über mich ergehen, ohne auch nur einen Mucks von mir zu geben. Und dann prügelte er mir die Lektion mit einem Stock ein, den er sich vorher zurecht gelegt hatte, bis der zerbrach. Keiner in der Familie wagte auch nur ein Wort entgegenzusetzen.
Irgendwann war die Lektion erteilt. Alle hatten wie paralysiert dabeigestanden, die Augen weit aufgerissenen und die Gesichter rot angelaufen von Tränen und aufgestauter Wut. Als mein Vater fertig war, baute er sich vor ihnen auf, schaute jeden einzeln an. Mich dagegen, das weiß ich noch sehr genau, hat er die Zeit nicht ein einziges Mal angesprochen, geschweige denn angesehen, was noch schmerzhafter war als die Schläge. Er erteilte der Familie striktes Verbot, mich in seiner Abwesenheit loszubinden oder auch nur in meine Nähe zu kommen, und dann ging er auf den Markt. Mich ließ er an jenem gesegneten Tag in der Sonne schmoren und die anderen in der Hölle ohne Aussicht auf ein Paradies.
Doch in erster und letzter Konsequenz war er ein Vater. Und Väter führen ihre Kinder.
Dabei ist Liebe das Grundgefühl.
Hätte nicht Onkel Salih, der jene Situation damals mit meinem Vater erlebt hatte, das Verbot übertreten, kaum dass er nach Hause kam, dann hätte es mein Vater kurz darauf selbst getan. An jenem Tag kehrte mein Vater viel früher heim als sonst, um mich loszubinden. Als er erfuhr, dass mein Onkel mich bereits befreit hatte, rief er mich zu sich. Vollkommen niedergeschlagen sah er mich an und schloss mich liebevoll in die Arme. Und da hörte ich etwas wie ein trauriges Kristall zwischen seinen Rippen zerspringen. Zärtlich strich er mir mit den Fingern über den Körper als wolle er die Narben mit dem Balsam der Liebe behandeln. Ich hörte sein bedrücktes Herz klopfen. Es schien mich um Vergebung zu bitten und als Grund die unermessliche Liebe anzugeben.
„Geh“, flüsterte er mir zärtlich ins Ohr, „zieh den Pfahl aus der Erde und hack ihn klein, damit deine Mutter mit dem Holz morgen den Backofen heizen kann.“
Weshalb ich so hart bestraft worden war, blieb lange Zeit ein Geheimnis zwischen uns, bevor es die Familie erfuhr.
Mein Vater wollte nicht darüber sprechen, weil ihn die Sache persönliche zutiefst verletzt hatte. Und ich wollte es nicht aus dem Gefühl heraus, einen schweren Fehler begangen zu haben. Bestraft ein Vater seinen Sohn nämlich mit dieser Härte, dann deshalb, weil der Sohn große Schuld auf sich geladen und dem Vater heftig zugesetzt hat.
Und ich hatte in der Tat ein solches Unrecht begangen.
Ich hatte gestohlen. Meinen Vater bestohlen. Ich will hier keine Gründe vorbringen, um mein Tun zu rechtfertigen. Nein, genau das ist passiert.
Mein Vater hatte eine kleine Holzschatulle gebaut, die ihm als Spardose diente. In die steckte er regelmäßig ein wenig von dem hart verdienten Geld aus seiner Arbeit in der Blechschmiede, in der ich mithalf. Ich wusste als einziger von der Schatulle. Und ich hatte eine Leidenschaft: Bücher, die ich zum großen Teil in der modernen Buchhandlung auf dem Markt erstand. Ich liebte Bücher so sehr, dass ich davon nicht genug bekommen konnte. Mein Vater war keineswegs geizig. Doch sein Einkommen war dermaßen bescheiden, dass es kaum für die nötigsten Bedürfnisse der Familie reichte, und daher ging er nicht weiter auf meine überzogenen Wünsche ein. Also nutzte ich eines morgens, als ich das Geschäft allein öffnete, die Gunst der Stunde und zog mit einem kräftigen Draht ein paar Banknoten aus dem Schlitz der besagten Schatulle in der Annahme, meinem Vater würde es nicht auffallen. Doch dann fand ich mehr und mehr Geschmack daran, und irgendwann kam mein Vater dahinter, dass seine kläglichen Ersparnisse schrumpften. Er war sich im klaren, dass außer mir niemand von der Schatulle wusste. Also stellte er dem Täter eine Falle, um seinen Verdacht zu erhärten. Und dabei stellte er fest, dass er einen Dieb zum Sohn hatte.
Inzwischen verstehe ich, was ihn zu dieser grausamen Maßnahme bewogen hat.
„Das Geld habe ich gespart, damit ihr genug zu essen bekommt“, erklärte er mir einmal, lange nach jener Lektion.
Da wurde mir schlagartig bewusst, wie tief ihn der Schock über seinen Sohn getroffen haben muss.
Auch wenn mir vieles entfallen sein mag, eines vergesse ich mein Lebtag nicht: jenes schwerwiegende Vergehen und jenen Satz, den mir mein Vater lange Jahre später abschließend zu der Lektion ins Ohr geflüstert hat.
In seinen letzten Lebensjahren sprach ich ihn einmal auf den Vorfall an. Er brauste nicht auf. Lächelte nicht. Er sagte kein Wort. Doch ich bemerkte, wie ein Anflug von Traurigkeit seine Miene verfinsterte, während er es beharrlich vermied, mir ins Gesicht zu schauen.
„Ich hatte Angst“, sagte er kurz darauf mit leiser Stimme, damit ihn ja niemand außer mir hörte. „Ich hatte Angst, es könnte dir zur Gewohnheit werden, andere zu bestehlen. Ich fürchtete, dich nicht zu einem anständigen, aufrechten Menschen erziehen zu können. Ich habe dich bestraft, bevor es andere tun. Jetzt weißt du alles.“
Wie konnte ein solcher Vater nur sterben?