Leila Chammaa
Im Jahr 2001 für seine Lyrik mit dem bedeutendsten arabischen Literaturpreis, dem Sultan Oweiss Award, ausgezeichnet, zählt Qassim Haddad zu den renommierten Größen der arabischen Gegenwartsdichtung. Neben 16 Gedichtbänden veröffentlichte er etliche literaturkritische Werke und theoretische Traktakte zur Dichtung.
In Übersetzung liegen einige seiner Gedichte auch auf Englisch, Französisch und Deutsch vor.
Haddad, 1948 in Muharrak/Bahrain geboren, ist ein Autodidakt. Er brach die Schule in der Sekundarstufe ab und bildete sich im Selbststudium weiter. Von 1968 bis 1975 war er in der öffentlichen Bibliothek seiner Heimatstadt tätig. Später arbeitete er im Informationsministerium in der Abteilung Kunst und Kultur.
Haddad ist bekannt als ein unerbittlicher Rebell. Im Zuge der Unabhängigkeit, die Bahrain 1971 von den Briten erlangte, setzte sich Haddad in den politisch brisanten Zeiten der 70er Jahre für strukturelle gesellschaftliche Veränderungen wie auch soziale und politische Gerechtigkeit und Freiheit ein. Infolge seiner Aktivitäten wurde er wiederholt verhaftet und verbrachte insgesamt fünf Jahre im Gefängnis.
Sein Engagement erstreckt sich auch auf kulturelle Bereiche. Er hat maßgeblich zur Gründung einiger kultureller und kulturpolitischer Einrichtungen in Bahrain beigetragen: Das bahrainische „Awwal Theater“ 1970, den bahrainischen Schriftstellerverband 1969 und die von diesem Verband herausgegebenen Literaturzeitschrift Kalimat 1987.
In Muharrak ansässig versteht sich Haddad als öffentliche Person mit dem Auftrag Interessengruppen zu vernetzen und einen offenen kulturellen Dialog zu fördern. Er ist Vorsitzender des bahrainischen Schriftstellerverbands. Zudem ist er Herausgeber der Zeitschrift Kalimat, die sich als Plattform für innovatives Schreiben, alternative Sichtweisen und experimentelle Ausdrucksformen begreift. Haddad hat 1994 außerdem das Internetportal www.jehat.com, ein Forum für die Auseinandersetzung mit Lyrik, ins Leben gerufen.
Haddad zeichnet sich durch ein vielfältiges und kreatives poetisches Werk aus, das keine einheitliche Linie aufweist, sondern eine große Variationsbreite sehr unterschiedlicher Stile. Dem eigenen Leitsatz folgend, dass Dichter stets neue Formen entwickeln müssten, da Formen, kaum erschaffen, zum Käfig würden, hat er in jeder seiner Publikationen mit neuen Ausdrucksmitteln experimentiert. Typisches Merkmal seiner Lyrik ist das für ihn auch als Person charakteristische sozialpolitische Anliegen.
In seiner Dichtung setzt sich Haddad kritisch mit den sozialen und politischen Realitäten in der arabischen Welt auseinander. Immer am Puls der Zeit enthüllt er mit feinem Gespür und analytischem Scharfblick bestehende Missstände. So spiegelt er die desolate arabische Psyche in einer von allgemeiner gesellschaftlicher Zerrüttung, politischer und ökonomischer Unsicherheit sowie rasant voranschreitenden strukturellen Umwälzungen bestimmten Wirklichkeit. Auch der Zusammenbruch einer nationalen und kulturellen Einheit in der arabischen Welt, bei gleichzeitiger Auflösung sozialer Traditionen und moralischer Werte, ohne dass zeitgemäße, überzeugende Alternativen neue Perspektiven bieten würden, ist Thema seiner literarischen Reflexion.
Haddad belässt es jedoch nicht bei der bloßen Bestandsaufnahme einer scheinbar ausweglosen Situation, sondern wird seinem kritischen Anspruch auch auf poetischer Ebene gerecht. Auflehnung gegen Konventionen, Normen und Autoritäten jeder Art zieht sich leitmotivisch durch sein gesamtes OEuvre. Er wehrt sich gegen despotische Regime, repressive gesellschaftliche Verhältnisse und reglementierende geistig moralische Werte, widersetzt sich also den Gegebenheiten, die sich aus der Geschichte legitimieren und - jeder logisch rationalen Grundlage entbehrend - Kraft der Gewohnheit unangefochtene Macht ausüben. In seinen Gedichten kritisiert er derartige Strukturen als rückständig und sinnentleert und fordert implizit oder auch explizit zur Rebellion dagegen auf. Zu einer Rebellion gegen Gewaltherrschaft und jegliche Kontrollmechanismen, so auch gegen Selbstzensur und verinnerlichte Instanzen, die eigenen Gefühle zu
unterdrücken. Tabubrüche und die Befreiung der Emotionen seien die Voraussetzung für eine Neuordnung der Verhältnisse und dafür, dass der Einzelne seine Beziehung zu sich selbst und zur Umwelt neu definiert.
Statt Verschlossenheit ist Offenheit gefragt. Statt Geborgenheit und Seelenfrieden sollen Unsicherheit, innere Unruhe und Ungewissheit den Menschen dazu bewegen, das Bekannte, Vertraute und Klare zugunsten des Unbekannten, Fremden, Diffusen aufzugeben. Denn nur auf der Basis von Mobilität und Freiheit kann der Mensch, so Haddad, Phantasie entwickeln, Leben und Umwelt aktiv und selbstbestimmt gestalten.
Dieser Vorstellung folgend strebt Haddad eine Dichtung an, die aus den Bahnen des Gewohnten und Üblichen ausbricht, eine Dichtung, die herausfordert, Grenzen überschreitet und provoziert. Dies erreicht er durch einen sprachlichen Duktus, poetische Bilder und Visionen, die beim Leser unwillkürlich heftige Reaktionen auslösen. Sie reichen von Irritation über Entsetzen bis Widerwillen: Tote fragen Tote nach dem Weg; tote Kriegsgefangene verfolgen, umzingeln und bereiten ihn, den Dichter, zur Schlachtung vor; ruchlose Frauen lassen sich von Pferden verführen und gebären tyrannische Kämpfer etc.
Drang nach Ausbruch aus Konvention und Tradition und Wunsch nach Neuordnung kommen nicht nur in Haddads poetischem Schaffen zum Ausdruck, sondern auch in seinen literaturkritischen Abhandlungen. So hat er 1984 zusammen mit dem Autor Amin Salih sein theoretisches Konzept von Dichtung in einem Manifest dokumentiert. „Der Tod des Chors“ (Maut al-kurus), die erste programmatische Erklärung ihrer Art in der Golfregion, stellte eine revolutionäre Neudefinition von Lyrik und der an sie geknüpften Erwartungen auf. Wie der Titel verrät, wird in dem Manifest der Tod der kollektiven Stimme proklamiert, gleichzeitig ein dringendes Bedürfnis nach Individualität. In Abgrenzung von einer Reduktion des Menschen auf eine kollektive Existenz, Erfahrung und Geschichte dekonstruiert Haddad die „Kultur bedingungsloser Zugehörigkeit“, die für ihn Züge von Sklaverei in sich birgt. Demgegenüber entwirft er das Konzept eines freien selbstbestimmten Individuums, das dafür Einsamkeit und Isolation in Kauf nehmen muss. Eine schmerzhafte Konsequenz, die jedoch als Gewinn gewertet wird.
In „Tod des Chors“ wird die Dichtung in ihrer traditionellen Rolle als unantastbare Autorität entmachtet und der Kritik freigeben. Dem neuen Verständnis gemäß soll Lyrik die Realität nicht beschönigen, sondern enthüllen und schonungslos in Tabubereiche vordringen. Als Medium der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit sei es nicht ihre Aufgabe, bequeme Antworten zu bieten, sondern für Irritationen zu sorgen. Mit der veränderten Funktion geht auch ein anderes Sprachverständnis einher. Die neue Lyrik solle sich von überlieferten rhetorischen Mustern und dem daran haftenden Komplex an konnotativen und assoziativen Bedeutungszusammenhängen lösen. Die Befreiung von der Dominanz historischer Konzepte sei die Voraussetzung dafür, dass Dichter nicht mehr als Diener der Tradition Altes reproduzieren, sondern als Schöpfer auftreten und frei kreieren können, also ungehindert ihre Rolle als genuine und unabhängige Individuen einnehmen. Hinzu kommt ein neues Realitäts- und Selbstverständnis, das auf der Übertretung konventioneller Richtlinien und Normen basiert. Dazu gehört auch, die Grenzen der Wahrnehmung zu erweitern, Dimensionen von Traum und Phantasie in die Lyrik einfließen zu lassen, um sich einen Raum uneingeschränkter Freiheit zu schaffen und sich unsichtbaren Wirklichkeitsebenen zu öffnen. Dieses neue Lyrikverständnis erfordert auch eine neuen Leserschaft. Einer Leserschaft, die breit ist, das Bedürfnis nach innerer Ruhe und vermeintlicher Sicherheit aufzugeben, den Status quo zu verwerfen und sich auf unbekanntes Terrain zu begeben.
Diese theoretischen Ansätze entwickelte Haddad nicht erst seit der schriftlichen Formulierung des Manifestes, sondern bereits von Anfang an. Allerdings lassen sich in seinem Schaffen seit den 70er Jahren drei unterschiedliche Entwicklungsphasen erkennen:
Debütiert hat Haddad 1970 mit dem Gedichtband „Die frohe Botschaft“ (al-Bischara), der ihm prompt große Popularität einbrachte. Denn er hat darin den Geist der Zeit eingefangen, der von politischer Mobilisierung, Massenbewegungen und Protesten geprägt war. Haddad hat sich in seiner Anfangszeit als Dichter der Revolution und dem Befreiungskampf verpflichtet. Er lag damit im Trend der sogenannten engagierten Literatur, die dem künstlerischen Schaffen, sei es Prosa oder Lyrik, eine politische Botschaft abverlangte. Das Werk sollte also einen konkreten Bezug zur Wirklichkeit schaffen und eine bewusste politische Stellungnahme enthalten. Diesem Verständnis folgend galt Haddad die Dichtung seinerzeit als Mittel, seine
politischen Ideale und Ziele zu proklamieren und zu erkämpfen. Mit dem Anspruch, die Welt zu verbessern, thematisierte er in seinen Gedichten die beobachteten Missstände: Ungerechtigkeit, Repressionen, Despotie, Unrecht etc.. Derartige Verhältnisse unmissverständlich klar ablehnend rief er in sprachlich kämpferischem Gestus zu deren Abschaffung auf. Die kompromisslose Entschlossenheit, Vehemenz und Gewalt, die dabei zum Ausdruck kam, ist als Reaktion auf die extrem rigiden Verhältnisse zu werten, gegen die sich Haddad aussprach. Denn die in der streng traditionsverhafteten Golfregion weitgehend ungebrochen herrschenden Autoritäten, Normen und Werte empfand er als dermaßen restriktiv und tyrannisch, dass sie jegliche Kreativität und Entfaltung im Keim ersticken und die Menschen in einem permanenten Zustand der Bewusstlosigkeit, im Delirium, halten. Die restlose Vernichtung erdrückender Ordnung, reglementierender Vorschriften und paralysierender Enge wurde als notwendige Grundbedingung für einen Neubeginn vorausgesetzt. Denn nur fernab von Beschneidung und Beschränkung kann sich der Einzelne, so Haddads Vorstellung, selbst wahrnehmen und individuelle Bedürfnisse und Träume entwickeln.
Haddads poetische Produktion der 70er Jahre, in die er seine Vision von einer besseren Zukunft projizierte, entsprach sowohl gedanklich als auch sprachlich der allgemeinen gesellschaftspolitischen Rhetorik. Mit ihrem unverkennbar polemisch revolutionären Tenor maß sie, wie die engagierte Literatur allgemein, der inhaltlichen Aussage mehr Gewicht bei als der künstlerisch literarischen Umsetzung.
Seine gesamtes poetisches Schaffen jener Phase, zu dem neben „Die frohe Botschaft“ auch „Der Exodus von Hussains Kopf aus treulosen Städten“(Khurug ra’s al-Hussain mina-l-mudun al-ha’iba) 1972 und „Zweites Blut“ (ad-Damm ath-thani) 1975 gehören, ist in diesem Stil verfasst. Lyrisch melodisch im Klang sind die Gedichte hinsichtlich ihrer formalen Struktur und ihres sprachlichen wie auch symbolischen Charakters relativ einfach und wenig komplex aufgebaut. Auch visuelle und formalästhetische Aspekte spielen in jener Phase kaum eine Rolle.
Dagegen vollzog Haddad in den 80er Jahren ausgehend von einem veränderten Selbst-, Sprach- und Weltverständnis dichterisch eine tiefgreifende Wandlung. Während er in seiner missionarisch ausgerichteten Lyrik bislang Veränderungen lediglich verbal propagiert hatte, suchte er nun nach tieferen Wahrheiten und vielschichtigen Antworten, ein tatsächlicher Wandel. Statt wie bisher vorgefertigte Inhalte und Standpunkte zu Papier zu bringen, entwickelte Haddad nun im Schreibprozess seine Sprache und eigene Bilder.
In Abkehr von seiner ehemals propagandistischen Agitationsdichtung, die sich vorrangig mit den äußeren Rahmenbedingungen des Lebens beschäftigte, wandte er sich nun eher persönlich intimen Bereichen zu. Den Blick nach innen gerichtet drang er poetisch in die tiefen, verborgenen Winkel menschlichen Innenlebens vor. In jener von intensiver Selbstreflexion und Sinnsuche geprägten Phase setzt er sich mit Themen wie Individualität, Einsamkeit und daraus resultierenden inneren Konflikten auseinander. Einschneidende Erfahrungen von Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit, existentielle Angst vor Verlust, Vergänglichkeit und Ungewissheit vor dem Hintergrund einer zu sich selbst wie auch zur äußeren Welt empfundenen Entfremdung sind literarisch durch mysteriöse Visionen, alptraumartige Schreckensbilder und absurde, ins Groteske verzerrte Szenarien ausgedrückt. Mit diesem Rückgriff auf Elemente des arabischen Surrealismus, der sich Anfang der 80er deutlich zeigte, gewann Haddads Lyrik inhaltlich, sprachlich und symbolisch an Komplexität und Tiefe.
Mit dem 1980 erschienenen Gedichtband „Das Herz der Liebe“ (Qalb al-hubb) als Auftakt der neuen Phase hat Haddads Lyrik auch auf formaler Ebene eine grundlegende Veränderung vollzogen. Bis dahin hatte er seine Gedichte ausschließlich in der lyrischen Form der freien Vers-Dichtung verfasst, jener Ende der Vierziger Jahre entstandenen Form, die die in der arabischen Lyrik geltenden strengen Regeln hinsichtlich Reim und Metrum auflockerte. Dagegen experimentierte Haddad in „Das Herz der Liebe“ erstmals mit der Prosadichtung, der lyrischen Form, die sich im arabischen Kontext in den 60er Jahren als bahnbrechende Revolution der modernen arabischen Lyrik durchsetzte. Sie verwarf alle geltenden Regeln formaler und sprachlicher Art, indem sie die Prinzipien von Reim und Metrik vollkommen abschaffte. In Abgrenzung von der alten Tradition arabischer Lyrik wie auch von den der freien Vers-Dichtung liegt der neuen Form somit eine immanente, nicht mehr sichtbare Rhythmik zugrunde. Daher bedeutete die Tatsache, dass Haddad
diese neue Form für sich entdeckte, ohne sich allerdings für immer von der freien Vers-Dichtung zu verabschieden, einen qualitativen Sprung in seinem Schaffen.
Mit dem Band „Auferstehung“ (al-Qiyama), ebenfalls 1980 erschienen, begann Haddad verstärkt daran zu arbeiten, thematischen Inhalten auf formaler Ebene zu entsprechen. „Auferstehung“ befasst sich mit der geistigen Suche nach den metaphysisch transzendentalen höheren Wahrheiten des Lebens und gelangt über die Erkundung der Elemente Wasser, Feuer, Luft und Erde zu der Erkenntnis, dass jedes Sein Göttliches in sich birgt, das Göttliche allerdings nur in kontemplativer Meditation wahrzunehmen ist. Das gedankliche Konzept der inneren Reise spiegelt sich formal in einem als durchgehend zusammenhängend angelegten literarischen Stück. Zäsuren und Unterteilung des Textes versinnbildlichen Übergänge in andere Entwicklungsprozesse und Bewusstseinsstadien, die unterwegs erlebt werden.
In dem 1989 veröffentlichten Band „Splitter“ (Schadhaya) vertiefte Haddad seine Experimente auf der Gebiet der optisch visuellen Momente in der Dichtung weiter. Inhaltlich auf stenographischer Verdichtung basierende, aus wenigen Worten oder Sätzen bestehende Gedichte von großer Intensität und Ausdruckskraft ordnete er kunstvoll auf dem Papier an. Der dabei entstandene Effekt sparsamer schwarzer Schrift auf großzügiger weißer Fläche verleiht dem Gedicht neben dem sprachlich semantischen Bedeutungsgehalt auch eine ästhetisch visuelle Komponente, die den Leser zu assoziativer Kontemplation anregt. Mit diesem Ansatz verfolgte Haddad das Ziel, seinen Begriff von Dichtung zu erweitern, indem er sie von einem auf Sprache, Bedeutung und Form reduzierten Verständnis löst und sie anderen, von diesen Kriterien unabhängigen Dimensionen der Wahrnehmung öffnet. Durch ihre gestalterischen Elemente soll sie nicht nur Intellekt und Emotion, sondern auch das Auge ansprechen.
In einer weiteren Entwicklungsphase, die Ende der 80er Jahre einsetzte, entdeckte Haddad den interdisziplinären Ansatz für sich und öffnete sich der Zusammenarbeit mit Interpreten anderer Kunstrichtungen wie Prosaautoren, Malern und Fotographen. Das erste Produkt dieser Art ist das 1988 in Kooperation mit dem Maler Gamal Haschim veröffentlichte Werk „Nahrawan“. Dabei lieferten Haddads Gedichte Haschim die thematische und inspirative Grundlage für seine im Anhang aufgeführten Bilder. Als Zeugnisse seiner besonderen Lesart vereinen sie kaligraphische Elemente und abstrakte Malerei. Im Zusammenwirken von Text und Bild verschmelzen in dem Gemeinschaftswerk semantische Bedeutungsinhalte von Sprache, ästhetische Momente arabischer Schriftkunst und gestalterische Komponenten abstrakter Malerei zu einem vielschichtigen Ganzen.
Dass „Nahrawan“ nur der Auftakt für weitere Projekte mit anderen Künstlern war, zeigt das 1989 veröffentlichte Werk „Schutzschilder“ (al-Gawaschin), in dem Haddad ein neuartiges Experiment mit dem Schriftsteller Amin Salih wagte. Im Gegensatz zu dem allgemeinen Anspruch von Literaten, ihre besondere Handschrift zu manifestieren, sind in dem gemeinsam formulierten Text die individuellen schriftstellerischen Merkmale der beiden Autoren bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Ebenso sind die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa aufgehoben. Auch hier ist den optisch visuellen Elementen ein wichtiger Stellenwert beigemessen. Die Texteinheiten sind so angeordnet, dass sie geometrische Formen oder bildliche Darstellung von Gegenständen wie einer Treppe, einer Kette oder einem Zelt präsentieren. Durch einen direkten Zusammenhang zum thematischen Inhalt der Gedichte haben die Formen metaphorischen Bedeutungsgehalt.
Ein besonders ausgefallenes Werk in Haddads Schaffen ist der 1996 veröffentlichte Band „Neuigkeiten von Lailas verrücktem Geliebten“ (Akhbar magnun Laila). Bildlich untermalt von dem irakischen Maler Diya’ al-Azzawi hat Haddad hierin einen Klassiker der arabischen Literatur neu interpretiert. Diese auf das 7. Jahrhundert zurückgehende Legende handelt von dem Dichter Qais bin al-Mulawwah, der unsterblich in eine gewisse Laila verliebt ist und, als er gewaltsam von ihr getrennt wird, den Verstand verliert. Dichtend vagabundiert er fortan durch die Welt. Seine Gedichte über Laila leiten in der arabischen Literaturgeschichte ein neues Genre ein: das der unberührten, keuschen Liebe. Die Legende von Qais und Laila stand lange Zeit als Symbol für die idealisierte reine Liebe.
Mit diesem Werk bricht eine neue Ära in Haddads Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen und kulturellen Geschichte an. Lange Jahre hatte er als strenger Gegner tradierter Vorstellungen, überlieferter
Werte und der herrschenden Kultur eine Koexistenz zwischen Altem und Neuem strikt abgelehnt. Dagegen tritt in diesem Band eine etwas ausgewogenere Haltung zutage. Der direkte Bezug auf den berühmten Klassiker macht deutlich, dass Haddad alte Themen und Symbole inzwischen gelten lassen und ihnen durchaus positive Aspekte abgewinnen kann, ohne jedoch seine kritische Position aufzugeben. Repressive Strukturen, die sich aus der Tradition legitimieren, und damit einhergehende Gewaltphänomene lehnt er auch weiterhin ab. Ebenso stellt er die Werte und Ideale aus vergangenen Zeiten, die teils auch in der Gegenwart gültig sind, in Frage. So dekonstruiert er beispielsweise den Mythos von der platonischen „reinen“ Liebe, indem er seiner Version der Beziehung zwischen Qais und Laila eine sinnlich erotische Komponente beifügt.
Der Vergangenheit gegenüber noch weitaus milder und versöhnlicher zeigt sich Haddad in seinem autobiographischen Werk „Werkstatt der Hoffnung“. In einer Mischung aus persönlichen Memoiren und Stadtbiographie rekonstruiert Haddad Kindheit und Jugend in seinem Heimatort Muharrak. In bescheidenen Verhältnissen sozialisiert beschreibt er erste Schul- und Arbeitserfahrungen in den 50er und 60er Jahren verwoben mit detaillierten Schilderungen sozialer, demographischer und baulich architektonischer Verhältnisse. Daneben liefert Haddad Einblick in die politischen und ökonomischen Realitäten eines im Umbruch befindlichen Landes: Das politisch fremdbestimmte Land erlangte Unabhängigkeit und die auf Fischfang, Perlenfischerei und Handwerk beruhende Wirtschaft mit teils feudalen Strukturen wurde zunehmend von einer auf Erdölförderung basierenden Ökonomie verdrängt.
Im Unterschied zu seinem sonst kritisch offensiven Gestus klingt in „Werkstatt der Hoffnung“ ein zeitweise nostalgischer Unterton an, der den Verlust der „guten alten Zeiten“ beklagt. Dabei werden die negativen Aspekte einer auf patriarchalen Verhältnissen basierenden Familien- und Gesellschaftsstruktur anders als bisher kaum in Frage gestellt, womöglich aus einem bei Haddad erwachenden Bedürfnis heraus, inneren Frieden zu schließen und sich mit seiner Umwelt zu versöhnen.
Zweifellos hat der äußerst produktive Dichter Qassim Haddad wesentlich zur Entwicklung der zeitgenössischen arabischen Lyrik beigetragen. Sein ausgeprägter Freiheitsdrang und sein - allen äußeren Widerständen in einer recht traditionsverhafteten Umgebung zum Trotz - unerschütterlicher Wille zur Veränderung auf gesellschaftspolitischer, kultureller und literarischer Ebene hat der modernen arabischen Dichtung neue Horizonte eröffnet. Mit seinem innovativen Verständnis von Lyrik zusammen mit einem veränderten sprachlichen und formalen Konzept und der Akzentuierung von optisch wie phonetisch Kriterien wird er seinem in „Tod des Chors“ geforderten Anspruch gerecht. Er hat die Grenzen der Wahrnehmung durch visuelle und auditive Komponenten erweitert, und der Lyrik durch seine Neudefinition zu zusätzlichen Potentialen im Hinblick auf ihre Gestaltung und Rezeption verholfen.
Bibliographie
Lyrik:
„Die frohe Botschaft“ (al-Bischara), Bahrain (asch-Scharika al-arabiya li-t-tauzi’ wa-n-naschr) 1970.
„Der Exodus von Hussains Kopf aus treulosen Städten“ (Khurug ra’s al-Hussain mina-l-mudun al-kha’iba), Beirut (Dar al-’auda) 1972.
„Das zweites Blut“ (ad-Damm ath-thani), Bahrain (Dar al-ghadd) 1975.
„Das Herz der Liebe“ (Qalb al-hubb), Beirut (Dar ibn Khaldun) 1980.
„Auferstehung“ (al-Qiyama), Beirut (Dar al-kalima li-n-naschr/ Dar ibn Ruschd) 1980.
„Splitter“ (Schadhaya), Beirut (Dar al-Farabi) 1981.
„Zugehörigkeiten“ (Intima’at), Beirut (Dar al-Farabi) 1982.
„Nahrawan“ (an-Nahrawan), in Kooperation mit dem Maler Gamal Haschim Bahrain (al-Matba’a asch-scharqiya)1988.
„Schutzschilder“ (al-Gawaschin), in Kooperation mit dem Autor Amin Salih, Marokko (Dar tubqal li-n-naschr) 1989.
„Er geht, flankiert von Bergziegen“ (Yamschi mahfuran bi-l-wu’ul), London (Riyad ar-Rayyes)1990.
„Die Einsamkeit der Königinnen“ (’Uzlat al-malikat), Bahrain (Kitab kalimat – usrat al-udaba’ wa-l-kuttab) 1992.
„Neuigkeiten von Lailas verrücktem Geliebten“ (Akhbar Magnun Laila), in Kooperation mit dem Maler Diya’ al-Azzawi, Bahrain (al-Kalima li-t-tauzi’ wa- naschr) 1996.
„Qassims Grab“ (Qabr Qasim), Bahrain 1997
„Die Heilung der Entfernungen“ (’Ilag al-masafat), Tunis (Dar tibr az-zaman) 2000.
„Das blaue Unmögliche“ (al-Mustahil al-azraq), in Kooperation mit dem Fotografen Salih al-’Azzaz, Rom 2000.
„Gesamtausgabe der Gedichte“ (al-a’mal asch-schi’riya al-kamila) Beirut, Amman (al-Mu’assasa al-’arabiya li-d-dirasat wa-n-naschr) 2000.
„Die Zauberin weckte mich“ (Aiqadhatni as-sahira), Beirut, Amman (al-Mu’assasa al-’arabiya li-d-dirasat wa-n-naschr) 2004.
Autobiographie
„Werkstatt der Hoffnung“ (Warschat al-amal), Beirut, Amman (al-Mu’assasa al-’arabiya li-d-dirasat wa-n-naschr) 2004.
Leila Chammaa/ April 2006
Aus dem Arabischen
S. 1 – 19 von Leila Chammaa
S. 20 – 41 von Leila Chammaa & Youssef Hijazi
1 Vorislamischer Dichter namens Tarafa bin al-Abd (543 – 569).
Qassim Haddad nennt ihn Tarafa bin al-Warda (Tarafa, Sohn der Warda) nach seiner Mutter, die Warda hieß.
Pfad der Triebe
1
Wecke deine Triebe!
Die Wolken sind in weiter Ferne,
Sand ist grausamer als das Meer mit seinen Launen.
Bei steigender Flut erhoben sich Matrosen
gegen ihren Kapitän.
Dein Herz ist zerstreut.
Lass deinen Trieben freien Lauf!
Zelte sind trügerisch.
Dichten heißt,
ins Delirium zu entrücken,
den Sattel bereit zu halten.
Denn reisen ist deine Heimat.
Hellsehen heißt,
in den Wolken deinen Aufbruch zu erkennen.
Das Meer liegt in weiter Ferne.
2
Baue nicht auf Sand, vertraue auf keinen Ort.
Sollen sie dich vermissen!
Vermissen,
wenn du - ein Abenteurer im Delirium -
verloren umherirrst,
geführt von deinen Trieben.
Sollen sie ihre Vermutungen anstellen!
Denn du gibst viele Rätsel auf.
Lass deinen Zügeln freien Lauf,
mach die Wanderschaft zur Heimat!
Zelte bieten keinem mehr Schutz.
Sollen sie das Wasser befragen!
Brich entschlossen auf,
lass deinen Trieben freien Lauf!
Die Wolken sind einsam,
das Meer liest dein Geheimnis,
die Wanderschaft schreibt dich neu.
Endlos weites Meer
Mein Herz brennt für diese endlose Weite.
Erhaben, wie getragen in einer Sänfte, wogt das Meer.
Mit federleichtem Pinselstrich verteilt es sein Gold.
Es fließt wie Wein, bringt Kristalle zum Erstrahlen.
Tätowiertes Ornament auf einer Hand,
Eleganz,
Sprache.
Es scheint, als hätte Gott das endlos weite Meer
einzig für einen Dichter erschaffen.
Araber,
von Ort zu Ort ziehend, besingen sie das Kamel,
tauschen ihre Erfahrungen in Schenken aus,
erwählen ein drittes Meer.
2 Das Wort „bahr“ Meer trägt im Arabischen auch die Bedeutung „Metrum“ in der Lyrik.
Der Dichter spielt hier auf sog, „lange Metrum“ (al-bahr at-tawîl) in der arabischen Lyrik an.
Wäre er,
der junge Dichter,
nicht durch sagenhafte Tugend und Weisheit aufgefallen,
hätte nicht jeder Versuch, seine Geschichte wiederzugeben
mit dem Selbstmord des Erzählers geendet,
würden Sprachforscher nicht immerzu das Meer neu beackern,
dann hätte keiner je davon erfahren.
Keiner hätte erfahren,
wie der junge Dichter seine letzte Reise antrat,
trunken, schluchzend,
im goldenen Rausch der Poesie.
Drei Metren in einem Gedicht
fa’ilun, fa’ûlun, fâ’ilun .
Das Meer
reicht weiter als kalte Asche,
ist weniger als ein Tod.
Es ist, als hätte Gott einem Dichter
auf dem endlos weiten Meer ein Geheimnis anvertraut.
3 die Versmaße des „langen Metrums“.
Wenn du es wünschst,
empfinden Kamele Sehnsucht,
oder Seeleute besingen aus neun Kehlen
die Rose für ihr unbezwingbares Wesen,
schwereloser und achtsamer als bestäubender Wind.
Wenn du es wünschst,
ist alles Beflügelte ein Brunnen,
jedes Schiff ein Tor zum endlos weiten Meer.
Wenn du es wünschst,
ist Sand die Tinte in einem Buch,
das uns nennt,
bevor wir unsere letzte Reise antreten.
Erhellende Fehler
Ein junger Mann, weise wie mit siebzig,
zieht durch die Wüste, verbannt, zum Sterben freigegeben.
Fehler entfesseln die Fantasien der jungen Frauen.
Im Taumel berückender Gefühle
geben sie sich ihren Träumen hin.
Wem gilt dieses Opfer?
Eine weinende Rose begehrte mich.
Ich befragte das Wasser.
Wüste,
sie betet Könige an und Monumente aus Stein.
Meine Weisheit ist weiß.
Meine Fehler.
Ich sehe eine Zukunft,
sie zerrinnt wie Sand,
Herr ist dort der Stein.
Jemand wird kommen und Luftschlösser errichten
auf einem heiligen Buch.
Ich frage mich, ob man die Bluttaten von morgen
aus dem heiligen Buch herleiten wird.
(Dieser Jemand wird kommen, sofern er kommt..)
Fehler erkennende Tränenflut.
Weise wie ein Eremit.
Generation um Generation erbt die Steine,
um Mord und Totschlag fortzusetzen.
(Er wird kommen, sofern er kommt..)
Ein junger Mann, ungestüm wie mit siebzig.
Seine Gedichte sind sein Tod.
Er klagt uns sein Leid,
weint.
Die jungen Frauen verfallen in einen Rausch,
kaum dass seine Gesichtszüge verschwimmen.
Ist er nichts als Dunst
oder ein Wiehern im Buch der Nacht?
Warda, die Rose unter den Frauen
Ich wünschte,
Warda würde mich noch einmal zur Welt bringen,
wünsche mich in einsamen Momenten zurück in ihr Tragetuch.
Ich wünschte, sie würde mein vergossenes Blut beklagen,
möchte ihr Schluchzen mit Wein taufen.
Wie oft geschieht es,
dass eine Frau Leben schenkt,
später aber wie Warda ihre Enkel an den Tod verliert?
War es mir bestimmt,
dass ich drei Mal auf die Welt komme,
dass ich kein Grab finde,
dass man sich neun Geschichten über meinen Tod erzählt?
Du teilst mein Schicksal, Prophet.
Deine Mutter verlor ihre Kinder an den Tod.
Du betetest heimlich.
Alle Mütter erhoben Anspruch auf dich als Sohn.
Im Tuch eng an den Körper geschmiegt,
trugen sie dich einst umher.
Der Mythos von freier Auslegung endete
mit der Bestimmung deiner Nachfolge,
endete in einer Fata Morgana,
endete in geheimen Ländern.
Ich teile dein Schicksal.
Herrscher preisen ihre Paläste
mit einem rebellischen Gedicht von mir.
Mutter,
du warst mir ein Rückhalt im Familienzwist,
doch weder deine schützende Hand noch tröstende Flötenwaise
änderten etwas an meiner Ohnmacht.
Ohne dein Tragetuch wären die schönsten Wälder dahin.
Neun Erzählungen kursieren über mein Schicksal.
Es heißt,
ich sei
lebendig begraben,
gekreuzigt,
zerstückelt worden,
verblutet,
oder
aus dem Schlund des Todes gezogen worden
und habe mein Lebenslicht wiedererlangt.
Ich sah dich, Mutter,
sah,
wie du Sonnenfäden verspinnst,
Strahlen, pomeranzengelb.
Sah,
wie du dich bescheiden zurücknimmst,
obwohl du die Richtung kennst,
weißt, wohin die Stammeskarawane zieht,
erkennst,
ob sie durch ein aufmüpfig rossiges Pferd vom Weg abkommt,
ob sie in einem unaufmerksamen Moment
Verluste macht oder in die Irre geht.
Ich sah,
wie du bewusstlos vor Schmerz in den Wehen lagst.
Du folgst dem Familienmythos,
ich dagegen dem Faden der Zeichen.
Da sich bereits an meinem Geburtstag
meine Ermordung abzeichnete,
da Leid und Schmerz stetig zunehmen
und der Weg mit jedem Schritt länger wird,
habe ich kein Verlangen mehr zu vergessen.
So sprudeln die Wort hervor.
Dein Tragetuch, Mutter,
hat seine Spuren an meinem Körper hinterlassen.
War ich das Ende am Anfang?
Die Trauer um Muraqqasch hat mich tief bedrückt,
noch bevor er seine Worte vom Stein wischte
und weinte.
Immer, wenn ich einen Entschluss fasste,
verlor sich mein Paradies in der Deutung
und leuchtete in der Ferne auf,
kündigte an,
dass ich sterbe
vor der Zeit.
4 Dichter. Großvater von Tarafa bin al-Abd
Der Prophet sagte, bevor er ins Delirium entrückte:
„Neun Mal wurde ich getötet.
Ein Mal rezitierte ich das Gedicht,
um Leidenschaft zu erschaffen.
Ich tauche in die Tiefe des Herzens.
Ein weiteres Mal wurde ich am Ufer getötet,
ein weiteres Mal fürchte ich mich,
ein weiteres Mal..“
Erwachen der Bedeutung
Wecke dein Pferd und greife zur Flöte,
deine Reise ist zu Ende.
Hebe dein Glas,
vielleicht schenkt dir eine verborgene Wolke zu trinken ein.
Wecke dein Pferd!
Beim nächsten Schluck erscheinen dir Vision und Anemonen.
Neun Königreiche und ganze Städte
wollen dich ans Kreuz schlagen vor dem Vogelschrei.
Wecke deinen königlichen Sattel!
Wolken brauen sich zu einem Meer von trügerischen Zeichen zusammen.
Wecke dein Pferd,
rufe die Bedeutung wach!
Dein Langgedicht ist der kürzeste Weg zum Tod.
Gib Acht!
Sie vermögen, die Zeichen zu deuten.
Schreib nichts Unbedachtes,
hüte dich vor ihrem Zorn!
Ist dein Weg zu Ende,
so brich zu einer neuen Reise auf,
meide Königreiche, in denen Krieg herrscht.
Wecke dein Pferd,
verleihe der Flöte Flügel,
lass sie singen,
auf dass
eine geheimnisvolle Melodie erklingt,
der Rhythmus bebt,
der Verlust erträglich wird,
die Flötenklänge mit den Träumen des Buraq aufsteigen.
Lass ab von ihnen.
Sie glauben, richten und kreuzigen zu dürfen.
Erhebe dich in deinem letzten Gedicht zum Schöpfer.
Wecke dein Pferd und greife zur Flöte!
5 Geflügeltes Pferd, das der Prophet Mohammad auf seiner Himmelfahrt ritt
Luft und Vogel
... Also suchte ich den Meister des Schreibens auf und bat ihn, mich in die Regeln der Schrift einzuweisen.
„Du hast doch deine eigenen Regeln“, entgegnete er, von meinem Anliegen wertgeschätzt. „Was brauchst du also die Regeln eines anderen? Zum Schreiben benötigst du nur dich selbst, sonst niemanden!“
Da sagte ich: „Ich habe gehört, dass die geschriebene Sprache in Form und lautlicher Symbolik gewissen Regeln folgt. Und diese Regeln sollen mir das Schreiben erleichtern.“
„Geh und schreib, mein Sohn!“, erwiderte der Meister. „Ich fürchte, Regeln könnten dich zu sehr einschränken und im Schreiben von dir selbst abbringen. Geh und schreib! Denn deine Worte sind deine Ordnung.“
Seither zeichnete ich Schrift, Buchstabe, Wort gelöst und ungehemmt auf. Und wann immer ich dem Meister meine Aufzeichnungen vorlegte, nahm er ihnen die scheue Zurückhaltung, entließ sie aus der Enge des Probierens und Übens in die Freiheit, mit den Worten:
„Geh, denn du bist die Luft und der Vogel!“
Der Buchstabe - dein Kind
Schreiben lernte ich,
bevor ich den Gefahren des Todes begegnete.
Sprache wurde zu meinem Paradies.
Wie ein Licht führte mich mein Großvater durch das Alphabet.
Er machte mir das Lesen schmackhaft,
dass ich es nun begehre
wie den letzten Tropfen im abendlichen Glas Wein.
Er sagte:
Fang das Buch mit deinem liebsten Buchstaben an,
hüte den Buchstaben wie dein Kind,
mach das Wort zu deinen treuen Gefährten.
Diese Sprache
erstrahlt, wenn man sie nur liebt.
Auserwählt spricht sie in unserem Namen.
Drum errichte ihr tief im Herzen ein Königreich,
gesteh ihr das Recht auf deine Liebe zu,
begegne ihr mit Gefühl und Seele,
widme ihren Juwelen eigensinnige Verse.
Schreib in ihrem Namen, was freie Auslegung erlaubt,
auf dass die Engel sprechen.
Schöpfe aus Wortdunst eine neue Sprache,
öffne das Wörterbuch, um zu vergessen,
lass dich auf hoher See von visionärer Unordnung leiten,
lass dich von meiner Poesie inspirieren, mein Enkel.
Solltest du dich einmal im Dunst verlieren,
solltest du im Schreiben ein wunderbares Paradies entdecken,
solltest du von der Sprache wie von einem Traum fortgerissen werden,
dann fürchte das Abenteuer nicht.
Lass dich von dem Blitz entführen,
denn dein Keim entspringt meiner Kraft!
Keiner zeigt dem treulosen Stamm gegenüber
mit Dichtung so viel Größe wie du.
Hab keine Angst!
Lies, was die Engel beten!
Gib Acht!
Schreib,
wie dir verheißen ist,
was dir die Inspiration eingibt.
Diese Sprache zeigt dir,
was leuchtet.
Sie erwählt dich.
Nimm sie an und zieh fort.
Könige werden dich suchen und töten.
Zieh fort im Schutz der Worte,
zeichne ein Fenster in dein Buch.
Der Tod lauert dir auf.
Entlasse deine Buchstaben, ein Wolke in die öde Wüste.
So leistest du ihrer Seele Gesellschaft,
so gewinnst du sie für dich,
so wirst du zu einem vereinten Heer.
Lies vor!
Schreib dein Buch in den gläsernen Sand!
Belasse im Stein, was aus dem Zeichen sprudelt!
Diese Sprache liebt dich,
wenn du dich in ihre heilige Nische begibst, dort betest.
Sie hält den Tod von dir fern.
Lies ihren Dunst!
Schreib für sie!
Ich lege es dir ans Herz.
Die Gedichte schmücken dein Hemd wie ein Zeichen,
ein Vorzeichen für ihr Begräbnis.
Was ist Bahrain
„Was ist Bahrain?“, fragte ich.
Da erwiderte er: „Meinst du Bahrain, wie wir es verstehen, so bezeichnet es das Gebiet, das sich, beim Horn von Oman angefangen, bis zum Basra-Fluss erstreckt. Es ist ein Gebiet, in dem Zeit und Raum verschmelzen. Bahrain umfasst Küste und Berg, umfasst Hadschr und Ihsâ’ . Das aber ist völlig bedeutungslos, wenn man im Begriff ist, von einem Ort an einen anderen zu ziehen. Für uns ist Bahrain Horizont, endlose, unbeschreibliche Weite. Sollten die Bewohner einer winzig kleinen Insel aber eines Tages behaupten, ein gewisser Dichter sei aus ihrem begrenzten Gebiet hervorgegangen... Sollten diese Menschen gar Dokumente und Beweise fälschen, um ihre Behauptung zu untermauern... Sollte jenes Inselvolk eine bedeutende historische Epoche auf einen eng abgesteckten geographischen Fleck reduzieren... Sollte das Volk für den Dichter Pavillons errichten und Festivals veranstalten, um ihn als ihren alleinigen Poeten zu feiern... So ist das die größte Lüge aller Zeiten. Große Träume und bedeutende spirituelle Erfahrungen sind nicht auf eine nichtige Illusion herabzuwürdigen.
Fragt dich also jemand nach Bahrain, dann wäge ab.
Sieht dieser Mensch in Bahrain genau wie wir einen großen, weiten, offenen Raum, dann soll er in seinem Glauben belassen werden. Er soll weiterhin glauben, dass hinter Bahrain andere Länder liegen. Dass diese Länder in unzählige Meere münden. Meere, die reichlich Poesie bergen und wachsen, wann immer in ihrem Blau ein neuer Dichter erwacht. Wenn der Fragende aber ein zersplittertes gespaltenes Land meint, für das ich in meinem kurzen Leben immerzu mit Poesie gekämpft habe, dessen abgetrennte Glieder ich dichtend Stück für Stück zusammenfügte, dessen Risse und Löcher ich flickte... Jenes Gebiet also, wo man mich in Basra hörte, wenn ich in Omans Bergen sang... Wenn er jenen zerstückelten Flecken Erde meint, den ich nachts mit dem Duft von Palmen, Rosen und Perlen in der Lunge durchwanderte und besang... Wenn er jenen begrenzten Horizont meint... dann ist das mein Zuhause.“
6 Regionen in Saudi Arabien
***
Seufzer
Ich reichte ihr mein Buch,
wollte in ihren Augen rätselhaft erscheinen.
Sie, eine Frau,
löste in mir Angst aus vor dem Takt.
Ergriffen übersprang ich die Details des Gedichtes,
das im Gewand der Nacht heranwuchs.
Ich entfachte das Feuer,
wollte das Versprechen einlösen.
Auf dem Gipfel wogend, Lust hauchend,
überwältigte sie mich.
Ihr Seufzer berührte meine Seele.
Sie wand sich
im Sinnestaumel,
trunken vor Leidenschaft.
Fast zerronnen wir,
vielleicht starben wir ein wenig, ohne es zu merken.
Sie, eine Frau,
sieht im Dunst meiner Träume ihre ätherische Wahrheit,
sieht, dass ich verrückt nach ihr bin,
sagt:
Nimm mich wahr, erschüttere meine Gewissheit.
Du bist mein Gefährte,
begleite mich durch das Buch des Zweifelns,
lies mich, in meinem Eigensinn.
***
Sänger erfinden das Meer
Nun kenne ich das Meer und seine Geschöpfe.
All das lernt ein Beduine wie ich nur kennen,
wenn er sich jenem weiten rätselhaften Blau aussetzt,
wenn er Heimat der Muscheln und Tummelfeld der Wale bereist,
wenn er die Beine vom Sand zu den Algen schwingt.
Ich kenne das Meer.
Kenne seine Männer,
geboren von der Wellenkönigin, aufzogen von Meeresfrauen. Männer - unterwegs,
soeben heimgekehrt oder im Aufbruch begriffen.
Die Reise führt ins Blau, auf den Grund, zu den Perlen.
Perlen, entstanden aus der Weisheit des Schmerzes,
gebettet in der Tiefe,
dort, wo Salz- und Süßwasser sich begegnen.
Die Lunge voll,
den hageren, geäderten Körper mit Gewichten beschwert, werfen sich die Männer in den Schlund des weisen Ungeheuers,
dann, wenn es einen Moment lang unachtsam ist.
Sie sinken in die Tiefe, überraschen den Grund,
bergen Juwelen, entreißen sie der Ewigkeit.
Das Meer.
Schreiner - Ingenieure der Distanz, Meister der Abwesenheit, Bändiger von trockenem Holz. Holz, zu Sänften bestimmt. Bestimmt, auf Wellen zu reiten, dem Ruf zu folgen, endlos durch Wüste zu ziehen.
Bändiger von Holz. Holz, dunklen Wäldern entnommen,
versetzt dorthin,
wo der Feuerball ins Blau taucht,
wo die Nacht sich auf die Archipele senkt.
Das Holz, nun Deck, Mast,
auch Leiter, von Wellen und Schaumkronen erklommen.
Schmiede - Bezwinger von Stahl,
mit Glut im Herzen hämmern sie Form und Kontur.
Männer - winken den Heimgebliebenen, stellen sich den Wellen.
Auf hoher See
kommen sie in den Genuss
von Besinnlichkeit,
von Freiheit, die nur Matrosen zuteil wird,
von Erfahrungen, die nur macht, wer sich auf Reisen begibt.
Schmiede - Eisen leichter als Staub, wendiger als wilde Pferde,
vernieten Holz fingerfertig wie Frauen an der Spindel, einsam wartend an Land.
Sänger - Lotsen der Meereskarawanen, Chor der Kehlen, beklagen Liebesleid.
Sänger - wachsam an Deck, ermutigen mit ihrem Gesang Taucher in Angst vor tückischem Wind und Wasser. Ihre Stimmen berühren die Sterne. Sterne, die sich funkelnd im Wasser spiegeln, glitzernd nach den Muscheln greifen.
Zitternd in Erwartung des großen Augenblicks,
wenn die Köpfe auftauchen und Münder nach Luft schnappen.
Sänger - rezitieren die Sure der Reise,
der fahle Mond wacht über sie.
Sie rezitieren den Schmerz
auf nassgespültem von reichem Muschelfang trunkenem Deck.
Das Meer.
Möwen - segelnd,
mal lauernd, zum Angriff bereit,
mal zahm, flüchtig, verloren,
mal Wegweiser, Postbote der Küste, Hüter der Wellen,
Hirte der auffliegenden Gischt.
An dem Glanz ihrer Federn erkennen Seeleute
das Wesen des Ortes, des Wetters, des Horizontes.
Völker - aufgezogen von Meeresfrauen.
Meeresfrauen,
die das unbändige Wasser in die Pflicht nehmen,
ihre Männer in Sänften den Wogen,
den stürmischen Launen des Meeres anvertrauen.
Khaulas Tätowierung
Feine Nadeln
schlummernde Nadeln
verträumte Nadeln
lesen in der Wunde,
beschwören Geschichten aus geheimnisvollen Büchern herauf.
So beginnen Erinnerungen.
Es ist,
als führe das Leben unabwendbar in den gewaltsamen Tod,
als sei der erste Traum bereits das Ende.
Nadeln verweben das Erleben mit Blut,
mit Geheimnis im Sinn,
mit Vollendung im Beginn,
mit knospend sprießendem Grün.
***
Bin ich wirklich gestorben?
1
Bin ich wirklich gestorben?
Ist das Leben kürzer als ein Gedicht?
Ist die Geburt eines Dichters absurd?
Absurd wie das Leben eines Vogels,
der im Trinkglas ein tückisches Meer sieht?
Ist es so, wie es scheint?
Ist der Tod der anderen auch improvisiert?
2
Der Wind verwehte meine Blätter,
als ich die letzten Worte niederschrieb.
Wer vollendet mein letztes Gedicht?
Ich wollte Khaula küssen,
wollte mit Träumen ihr Kleid umgarnen.
Weder Licht
noch ihre innigsten Offenbarungen
vermochten mich zu beleben.
Stirbt der Menschen wirklich vor dem Ende der Welt?
Welche Weisheit verbirgt sich hinter der Schöpfung,
wenn Vergänglichkeit so allgegenwärtig ist?
Wie soll ich einem Schöpfer glauben,
der mich mühevoll erschafft
und dann tötet?
3
Bin ich wirklich gestorben?
Ich will es nicht glauben.
Auf der Schwelle des Lebens,
grübelnd, wie ich die Nachkommen nennen soll,
erträumte ich mich als Zukunft.
Der Wüstenmythos geht weiter.
Aufkeimende Leichtigkeit,
denn ich habe genügend Gedichte,
ein weites Meer.
Wäre nur dieses Herz keine Realität!
Soll ich vor dem Tod gestorben sein?
Kann das Gedicht zwanzig Jahre alt werden?
***
Konzert der Verirrung
Er verlor sich langsam,
schlief ein auf einem verlorenen Pferd,
verlor den Kompass der Zeit,
legte die Landkarte aus der Hand, um verloren zu gehen.
Kein anderer Dichter hat sich je so hoffnungslos verloren.
Kein anderes Land hat es je zugelassen,
einen Kerl wie ihn zu verlieren.
Verloren von den Verlorenen.
Wann immer er sich in Traumnächten verlor,
erhelltem ihm seine Schritte den Weg.
Langsam,
verloren,
verliert er sich,
findet im Verlorensein Geborgenheit.
Wo begann deine Reise?
Woher bist du?
Was war der Ausgangspunkt?
Ein Haus? Eine Zelle? Eine Schenke?
Wo beginnt ein Dichter?
Wie wird er zur Blume?
Ist deine Heimat ein verlorenes Paradies?
Wo fängst du an,
bei den vielen Fehlschlägen, die du erlitten hast?
Was war der Ausgangspunkt?
Ein Haus? Ein Land? Die Flucht?
Was?
Dein ist das Wort.
Deine Geschwister aber beklagen dich, ehe du gestorben bist.
Was auch immer der Ausgangspunkt war,
du hast, was du hast.
Verirrung.
Du hast ein wildes Pferd,
ein neuntes Glas.
Geh! Trink! Fang an!
In einer Schenke,
im Delirium erschaffe den Ort neu!
Dieses Land verdrängt seinen Schatten.
Ermahne es!
Es wird zuhören.
Das ist keine Heimat.
Unwegsamer Sand vielleicht.
Inseln, die ihre Bewohner verleugnen, vielleicht.
Kehre zurück!
Denn dies ist und bleibt deine Heimat!
Wohin auch immer du ziehst, kehre zurück!
Ein Haus, eine Flasche, halbvoll.
Drei Anläufe, drei Deutungsversuche.
Keine Frau zum Verlieben.
Kein ehrlicher Feind.
Das Glas ertränkt keine Flucht.
Sag! Wer bist du?
Was war der Ausgangspunkt?
Wie kannst du im Meer der Poesie schwelgen,
obgleich du in der Wüste die Einsamkeit verschlingst?
Sag!
Wie erschaffst du das Wort?
***
Wein und Glas
Wann immer ich mich der Dichtung hingebe und der Wein überläuft, gehe ich unwillkürlich zur Prosa über, finde mich dann in neuen Sphären wieder. Das Neue ist fremd und schön. Trete ich auf einen Stein, erhebt er sich. Trete ich in weichen Lehm, quillt er. Ich entsteige dem Text, befleckt mit Tinte und Sünde, zerrissen, taumelnd, beflügelt, getragen vom Wind.
Was Prosa sei, will manch einer wissen.
“Frei heimkehrende Poesie“, lautet meine Antwort.
***
Was wollt ihr von mir?
Was erwartet ihr?
Mit welchen Augen soll ich ihn betrachten?
Ihn, der in seinen Runzeln vereinsamt.
Wie soll ich seinen Takt erkennen,
wenn er doch beharrlich dem Metrum trotzt?
Er steht für sich – das ist sein Maß.
Die Könige dagegen sind viele.
Das Volk trachtet ihm nach dem Leben,
die Richter schauen zu.
Wie könnt ihr ihn einen Knecht nennen,
wenn er doch frei den Wind reitet?
Was erkennt ihr in seinen einzigartigen Gedichten?
Wohl nur Niederlagen!
Erwartet ihr, dass ich das gleiche sehe?
Euch entgleitet der Sinn.
Er entfernt sich mehr und mehr.
Ihr schafft nichts als Trümmer,
Asche über Asche.
Ich höre das Feuer knistern.
Erkennt ihr euren Verlust?
Euren Sohn,
euren Nachkommen,
den Sinn des Gedichtes.
Mit welchen Augen soll ich ihn betrachten?
Ich sehe ihn, zerrissen und schluchzend.
Ich sehe die Wüstenrose,
begehrt und gestohlen.
Allein, einsam,
bricht er auf, flüchtet er.
Nur ihn sehe ich im Gedicht.
***
Herz aus Eisen
Die Lerche weinte.
Lehm erwachte auf dem Friedhof.
Wem gehört dieses Haus?
Wer wird es wohl in eine Schenke
- in seine nächtliche Zelle verwandeln?
Darin thronen wie in einer Brauerei?
Wachendes Paradies,
gepriesen von Gott im Schöpfungsakt,
ein in Glut gebettetes Herz.
Die Lerche weinte.
Ein Traum erwachte im Lehm,
aus Leid brach eine Rose hervor.
Das Buch schien
aus qualvoll gewürgten Lauten zu entstehen.
Scharfe Sprache.
Gebt Acht!
Verschleierndes Paradies,
erstrebt von Königen
von Mythen, Poesie, Prosa,
von der Unmöglichkeit,
auf dass Gott den Unterschied enthülle
zwischen alter Brandwunde
und Höllenqual - dem wahren Gesicht des Jenseits.
Um dieses Paradies bemühte ich mich in dem Gedicht.
Mit Erfolg.
In die Tinte mischte ich Wein.
Nenn es, wie du willst.
Eine Lunge in Eisen.
Ein Liebender, zerflossen vor Leidenschaft,
im Aufbruch,
auf der Flucht,
von Soldaten gejagt,
von heimtückischem Feuer bald eingeholt.
Nenn es, wie du willst.
Ein verwirrtes Paradies.
Spuren der Liebe am Leib.
Selbst wenn die Fallen nicht zuschnappen und die Lerchen entkommen,
ergeht es mir wie dem Abenteurer unterwegs zum Horizont.
Ein König mit gezogenem Dolch.
Eine Tochter von einer Dirne,
zerstreut entstieg sie dem Dunst,
begehrte einen Ritter,
rettete sich vor dem Feuer in die Mittagsglut.
Eine Tochter von solch einer
ist ein Nachtfohlen im Morgengrauen.
Das ist keine Heimat,
keine Rettung vor gewaltsamem Tod.
Ein flüchtiger Gedanke nur,
stammt
aus göttlichem Gebet,
von den Königen der Legenden.
Ein flüchtiger Gedanke nur
über den Drang nach Bosheit,
will die Magie der Zauberin entfesseln.
***
Auf das Wasser!
Zünde die Öllampe an,
trink auf das Wasser.
Sag:
Hast du das Pferd gesehen,
verstört, auf der Flucht vor dem Feind?
Kennst du die Nacht wie ich?
Zünde die Öllampe an!
Lass den Takt durch die Dunkelheit hallen!
Hast du der Wüste gelauscht?
Hast du gehört,
wie sie den entrechteten Beduinen jagt?
Wie sie ihn aus Weite und Horizont reißt?
Hast du den Geisterchor vernommen?
Er lastet dir alles an, was du von dir gibst.
So näherst du dich mit jedem Gedicht
Sprosse um Sprosse dem Tod.
So schreibst du dich eigenhändig ins Grab.
***
Freunde des Mondes
Freunde,
solltet ihr mir Poetisches widmen,
so verteidigt mein Blut!
Der Wein könnte überlaufen.
Es könnte euch gefallen,
das Gedicht als Kapitel im Buch der Reise zu lesen.
Freunde,
solltet ihr Geschmack finden
an einem nächtlichen Glas Wein in Gesellschaft,
so verteidigt meinen Mund,
wann immer boshafte Zungen meine Gedichte verreißen,
Träume zunichte machen,
Starres ehren!
Freunde,
es ist alles gesagt.
Ich bin von Glück erfüllt.
Poesie beflügelt mich.
Der Schatten des Mondes geleitet mich.
***
Tanz der Zigeuner
Wann immer sie durch den Sand wanderten,
las ich ihre Spuren,
lauschte ich ihren Flöten,
ließ ich mich von ihren wehmütigen Gesängen durch die Dunkelheit führen.
Sie hielten Ausschau nach jungen Frauen,
erklärten ihnen die Wunder.
Muscheln, Ruinen, verborgenes Paradies, Rose mit stillen Träumen.
Sie wachten drei Nächte lang,
beteten für den kranken Morgen,
richteten mit dem Rest Traum ein Festmahl aus,
tischten wilden Storchschnabel auf,
beschworen mit Magie und Zauberspruch die Liebe herauf.
Wir teilten das gleiche Alphabet.
Ich - Saum des Gewänder.
Sie - bebender Tanz der Fehler.
Schrei der Seele, gemartert auf endloser Reise.
Ich wollte das Sinnbild sein,
verwarf jede Deutung, die ihnen nach dem Leben trachtet,
erkannte in der grünen alten Tätowierung ein Zeichen,
das ein wenig zum Sterben reizt.
Flötenklang und Volk beweinen die verlorene Fiedel.
Weinen wie eine Frau in Trauer um einen jungen Mann.
Gewissensqual,
Verrat an der Erinnerung,
Geschenk von einem getöteten Geliebten,
verirrte Wellen,
ein weiteres Volk.
Buch des Weins, Wörter, Trümmerhaufen.
Ein Volk heiligt das Leid.
2
Sand war die Tinte in ihren Buch,
Gedicht und Sinn wohnten in ihrem Zelt,
Angstpoesie diente ihnen als wegweisender Stern.
Ich las ihre Spuren,
verfehlte die Bedeutung im Dunst des Buches.
Aufgescheute Gazelle an der Quelle.
Falten im Hemd verstrichen von flüchtigen Küssen.
Blut schießt aus heimtückisch zugefügten Messerstichen.
Ein Kind erblüht im Schoß einer Reiterin.
Völker auf Landkarten verlieren sich im Dunkel der Nacht. Knospender Stolz, Paradies des Verlierers.
Entschlossener Tanz aufeinander folgender Fehler.
Eilige Hochzeit zieht vorbei.
Schöne Namen - nichts als trügerische Falten in einem verträumten Gesicht.
3
Ein Volk wird vergessen, dass ich meinen Tod neun Mal aufschob, um zu erleben, wie es erwacht.
Ich stellte ihm Fallen,
gab mich als Text aus, als Wein, als trunkener Zigeuner,
trunken von Schönheit, Feinsinn und fremdem Wein.
Neun Mal kam ich davon, ließ mich nicht aus dem Gleichgewicht bringen.
Wann immer sie durch den Sand wanderten,
vernahm ich ihre Angst -
dort, wo die Flüsse sich vereinen.
Ich fürchte, den Sinn nicht zu erkennen.
Auch wenn ich den Tod neun oder zehn Mal aufschob,
weil Details zuweilen eine Vereinfachung innewohnt,
die dem Zigeunerleben nicht gerecht wird.
Mein Gedicht
erzählt vom Zigeunerleben - kommt so zu seinen Sinn,
erzählt von der willkürlichen Deutung eines aus dem Takt geratenen Volkes.
Eines Volkes,
das sich seinem Schicksal ergab,
sich von seiner Sprache abwandte.
Ein seelenloses Volk,
das seine Fiedel verlor,
seine Lieder vergaß,
das Reisen aufgab.
Ein Volk, das die Lebenslust der Zigeuner verwirft.
***
Reicht mir den Wein!
Er setzte sein letztes Wort auf die Zeile,
mitten auf das Blatt,
irgendwo zwischen Tinte und Tintenfass.
Er legte seine gebrochene Feder aus der Hand,
hob den Kopf müde verträumt und sagte:
- Reicht mir den Wein!
Die Wärter erschauderten entsetzt.
- Wir beratschlagen, wie du sterben sollst, und du? Du verlangst nach Wein!
- Wie ich sterbe, bestimme ich. Einem Dichter gebührt kein Tod, den andere für ihn wählen. So frei, wie ich gelebt habe, werde ich auch sterben. Das, was mein Leben begleitete, soll es auch beenden. Ich will den Tod, der die Spuren des Dichters erhellt.
Reicht mir den Wein!
- Was soll das für ein Tod sein?
- Ich werde trinken, bis mein Blut pochend Funken und Splitter versprüht. Dann sollt ihr mir in die Ferse ritzen. Das soll an dem Ort geschehen, von dem aus ich zu den Gestirnen aufbrach. Ich werde bluten. Rot und Rot werden ineinander fließen. Auch der Körper ist eine Flasche. Und hat überhaupt jemand das Recht, seine Flasche zu vergießen, so ist es der Dichter.
Beherzt hob er sein letztes Glas. Er forderte seine letzte Freiheit ein, entriss dem König die Macht, über Art und Zeitpunkt des Todes zu richten.
- Reicht mir den Wein!
Sie brachten ihm den Wein. Er suchte seine letzten Blätter zusammen, verschnürte sie mit grünem Seidenband, drückte dem Bündel sein Siegel auf. Verschütteter Wein mit dem Kelch gestempelt, scharlachrot trauriger Zeuge von maßlosem Unrecht. Kelch um Kelch schenkte er sich ein. Kelch um Kelch schüttete er in sich hinein. Er verfiel ins Delirium, Schübe von Halluzination und Offenbarung erfassten ihn. Das Hemd hing hinab, Wein befleckt, rot leuchtend, glühend. Kaum war eine Flasche ausgetrunken, schwindelerregend leer, schafften die Wärter neuen Wein heran. Staunend sahen und hörten sie Unglaubliches:
- Um dem Tod frei wie dem Leben zu begegnen, muss man sich ihm auf angenehme Weise nähern. Das Geheimnis verbirgt sich im Warten auf das Ende und im Weg dorthin. Berauscht bist du überlegen. Keine Waffe kommt gegen den Tod an. Nur der Wein vermag Anmaßung, Selbstgefälligkeit und Hochmut des Todes zu brechen. Scharlachroter Wein verleiht dem Blut Unsterblichkeit. Seine Farbe ist kein Zufall, genauso wenig sind Poesie und Liebe im Leben zufällig.
Reicht mir den Wein!
Kommt! Befreit mein Blut aus der Gefangenschaft!
Feuer lodert in meinen Adern. Alkohol pocht in meinen Venen. Lasst es hinaus! Wo sind eure Klingen? Ritzt mir in die Ferse!
Reicht mir den Wein!
Es heißt:
Als sie die geschwollene Ader aufritzten, sei es scharlachrot warm herausgeschossen. Tarafa, in der Hand seinen letzten Kelch, habe stumm geschaut, nicht geschrieen, keinen Schmerz gezeigt. Sie hätten immer wieder nachgeschenkt. Er habe getrunken, die Augen weit geöffnet, auf den gefärbten Lippen ein geheimnisvolles Lächeln.
Es heißt:
Als sein Körper erschlaffte, sei das rote Rinnsal zum Fluss angewachsen, immer weiter angeschwollen, bis sich zwischen Hand und Ferse Rot und Rot vermischten. Die Wärter hätten keinen Unterschied zwischen Blut und Wein erkannt. Sie hätten fassungslos zugesehen, wie sich vor ihren Augen ein ungekannter Tod vollzog.
Es heißt:
Als sie den leblosen Dichter untersuchen wollten, sei seinem Körper ein angenehmer Duft entstiegen. Rote Rosen seien aus seinen Ärmeln gewachsen. Und als sie ihn aufhoben, sei er leicht gewesen, leicht wie eine Feder im Traum.
Es heißt:
Als der König erfuhr, wie Tarafa zu sterben gewählt hatte, habe er erschüttert gerufen: „Dieser Tarafa! Er tötete mich, bevor er starb!“
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