Unsi al-Hadj

Günther Orth

Die Dämmerung am Morgen war die Seele der Nacht,
und das Leben ein giftiger Pfeil.
Als das Dunkel sich lichtete und der Pfeil sich entgiftete,
brach die Welt in Stücke.

Einige Tage herrschte Ruhe,
dann ging die Hölle wieder los.
Ohne Morgengrauen, ohne Abend, allein durch sich, mit immer größerer Gewalt,
ohne Pfeil und Bogen.
Meine Augen starrten auf den Horror wie ein greises Kind.

Alle paar Ewigkeiten
unterbrach mein Kopfbrennen
eine Euphorie, die ich preise, aber nicht besitze,
und eine Flucht in mein Schicksal.

Liebe ist die Blume des Mitleids,
der Himmel ein Gefängnisdach,
aber nichts würgt mich am Hals,
weil mein Zimmer keine Wände hat
und zwischen Himmel und Erde hängt.

Die Schönheit raubt mir meine Schönheit,
perfekte Dichtung ist vergessene Dichtung,
aber nichts hält mich auf,
weil mein hängendes Zimmer
umwogt wird von Träumen,
die in der Ruhe meiner Entscheidung
ohne Erbarmen
ohne Ende
tosen.

Ich stehe da
und rufe niemanden.
Ich steige hinab zwischen Licht und Dunkel,
in meiner Brust umschlingen sich das Leben und seine Geister.
Von Kopf bis Kopf
sinke ich nieder,
und meine Augen kennen mich ab heute nicht mehr.


*****

Khawatem

Pionier der modernen arabischen Poesie aus dem Libanon. Alle Texte sind entnommen aus: Khawatem, London 1991. In dieser Sammlung befinden sich kürzere und längere Texte ohne Titel, die sich der Zuordnung zu einem literarischen Gattungsbegriff entziehen.

Jede Erschütterung, die ein Dichter in jemandem auslöst, schafft einen neuen Menschen.

Es ist bedauerlich, dass nicht immer allein das Schweigen Schweigen ausdrücken kann.

Der Kreative stirbt wenn nicht am Nichtwissen der Welt über ihn, so an seinem Wissen über sie.

Nichts, was wir schreiben, hat Wert, solange wir unser persönliches Heil für wichtiger halten als die Wahrheit.

Das Licht der Welt hat mich nicht so erwärmt wie einer, der mir einmal sagte, ich hätte ein Licht in seinem Herzen entzündet.

Nie fand ich zu Gott wie einst, als ich meine Gedanken nicht mehr ertrug.

Manch einer wählt den Weg der Betrübnis, um sich frühzeitig daran zu gewöhnen, an den Tod zu denken.

Es ist erschreckend zu erkennen, dass man anderen sein ganzes Leben lang Dinge gelehrt hat, von denen man selbst nichts weiß.

Ich konnte nie einen grundlegenden Unterschied zwischen „moralischem“ Denken und Terror entdecken.

Kaum hast du Vertrauen zu ihnen gefasst, sind sie schon deine Feinde.

Nicht im endlosen Universum hat er sich verloren, sondern in seinem kleinen Hirn.

Vergessen Sie nicht: Es gibt auch eine Genialität des Lesens!

Ignoriere die Zeit, und du gewinnst sie.
Beobachte sie, halte dich an sie, und du verlierst sie.
Um dich davon zu überzeugen, schau auf deine Uhr.
Schau noch einmal...

Das Leben ist nicht eintönig. Hier ist der Beweis:
Der eine stirbt am Suff,
ein anderer an Kummer.
Der eine stirbt an Entsagung,
ein anderer an trauter Zweisamkeit.
Der eine stirbt an Angst,
einen andern tötet sein Mut.
Der eine stirbt am Elend,
ein anderer an Ehrgeiz.
Der eine stirbt an Verzweiflung,
ein anderer am Warten.
Wer sagt, das Leben sei eintönig,
stirbt an Selbstmord.
Wer sagt, das Leben sei nicht eintönig,
stirbt an Wahnsinn.
Wie soll das Leben eintönig sein,
wo es all diese vielfältigen Arten
zu sterben bereit hält!

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Schehrayar und Schehrezade

Deine Freunde machten dich zu deinem Bund mit mir bereit
Deine Liebsten machten guten Wein aus dir, dass ich meinen Platz bei dir einnehme
Dass ich dich esse, ließen deine Liebhaber dich reifen
Hier bin ich!

Warum isst du mich nicht auf, mein Herr, wenn ich neben dir liege?
Dies ist schon die zweite Nacht, doch hast du mich noch nicht berührt. Gefalle ich dir nicht? Ach! Warum isst du mich nicht auf?

Geh fort, denn ich möchte auf dich warten.

Die Schlacht

Er schaute durchs Loch, um zu sehen, ob der Krieg losgehen würde. Seine Atemzüge stürmten hervor und griffen an, um die Tür zu öffnen, während sie schrien: „Reglos sein heißt leblos sein!“ Er hob die Arme und wollte eine Rede halten, doch der Atem gab ihm einen Tritt in seinen Pol. Fast wollte er zurückweichen, aber aus Angst vor der Blamage besann er sich darauf, Widerstand zu leisten. Er sprach zu seiner Atmung: „Reglos sein heißt leblos sein... Aber der Krieg ist nah! Achte auf meine Augen!“ Die Atemzüge lachten, er wollte etwas sagen, aber da trat sein Pol auf den Plan und sagte: „Wer mich auf den rechten Hoden schlägt, der hat getroffen. Ich habe meinen linken nämlich schon verloren. Wer mir meinen linken Hoden findet, der soll ihn auffressen, weil ich den rechten auch einbüßen werde.“ Er verlor den Verstand. So legte er seine eine Hälfte auf den Atem, die andere auf den Pol und versuchte, den Aufstand zu ersticken. Aber vergeblich: Die Menschheit in seinem Körper erwachte, und alle forderten Hungersnot. Während er unter dem Ansturm zusammenbrach, ging hinter ihm die Tür auf, und er wurde hinausgetragen.
Der Krieg. Die Völker seines Körpers hatten gesiegt.
Heldentum.
Der Krieg ist die Hülle der Begierde.
Freiheit.
Er wird über die nächstbeste Frau herfallen, die seinen Weg kreuzt.

Das tiefe Haus

Haus und Rauch umschlingen sich. Es gibt keinen Schatten. Ich breite meine Gestalt über die Sonne und werde Teil ihrer Strahlen. Säen und Rettung sind unnötig, der Schweiß des Flüchtenden ist unnötig, das Pochen, Pochen, Pochen ist unnötig. Das tiefe Haus ist leer und blitzt, und ewig gleitet es auf dem Fleisch!
Wir begraben das Fleisch und  rächen es nicht.
Die Wellen sind schwach, und der Wind.
Die Wellen versenken nicht das Meer, und der Wind ist eine Lücke.
Wir begraben das Fleisch und beweinen es nicht. Wir begraben das Fleisch und kennen es nicht. Wir begraben das Fleisch und zerhacken nicht das tiefe Haus, die tiefe Seele, den tiefen Gott.

Wir begraben das Fleisch und essen es.
Wir essen es und spucken es aus.
Wir spucken es aus und pflanzen es ein.
Wir pflanzen es, um es zu erwürgen.
Das Fleisch!

Haus und Rauch umschlingen sich. Das Haus und Gott, das Haus und die Seele, das Haus und das Wort, das Haus und der Mangel.

Und die Sonne.

Das pralle Fleisch verschleppte den Schatten und erstickte.


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