Mit einem Nachwort von Michael Kleeberg

120 Seiten, 14,90 €
erscheint im Oktober 2004 bei edition selene, Wi en

****

"Eine Saison in Berlin" enthält Gedichte, die der Lyriker Abbas Beydoun während eines mehrwöchigen Aufenthalts in Berlin schrieb. Es ist der erste Lyrikband von Abbas Beydoun in deutscher Sprache!

Im Rahmen des Austauschprojektes "West-östlicher Diwan" (www.westoestlicherdiwan.de) traf er mit dem in Berlin lebenden Schriftsteller Michael Kleeberg zusammen. Aus dieser ersten Paarung entstand bereits ein Buch (siehe Michael Kleeberg). Der vorliegende Gedichtband "Eine Saison in Berlin" ist nun das zweite!

Die Prosadichtung Abbas Beydouns hat besonders auf die jüngere und jüngste Generation arabischer Dichter großen Einfluß. Seine Arbeiten werden über alle poetischen Schulen hinweg geschätzt. Er zählt zu den stilbildenden Dichtern der modernen arabischen Lyrik.

Deutsche Übersetzungen seiner Texte sind in diversen Anthologien erschienen: Gedichte, in: Stephan Weidner, "DieFarbe der Ferne", 2001

Gedichte in: Khalid Al-Maaly, "Zwischen Zauber und Zeichen. Moderne arabische Lyrik von 1945 bis heute", Berlin 2000.

Gedichte in: Diwan, Zeitschrift für arabische und deutsche Poesie, Nr. 4 (Oktober 2002)

Abbas Beydoun wird im Herbst anläßlich der Frankfurter Buchmesse in Deutschland sein und für Interviews und Veranstaltungen zur Verfügung stehen. Bitte fragen Sie nach Terminen info@loelsberg-pr.de

LESEPROBE

ABBAS BEYDOUN

Berliner Tagebuch
Aus dem Arabischen von Leila Chammaa

Michaels Garten (Gedicht Nr 13)

Michael hat in seinen Garten ein Stück Berliner Mauer gepflanzt, woran sich diese, selbstvergessen mit Paula und dem blinden Hund spielend, nicht mehr erinnert. Die Zeit, sie zu begraben, ist noch nicht gekommen, und so wurde dies auf später vertagt. Paula wird wachsen und eines Tages über die Mauer hinweg schauen können, und der alte Hund wird an der Mauer schlafen. Vielleicht beginnt die Mauer jedoch an jedem Haus, denn stets steckt ein Stück von ihr im Inneren. Auf diesen Mauerspuren bewegt sich Michael, mit dem Auto oder mit seinem Hund. Bisweilen wandelt er, in seinem Sessel dösend, durch die Erinnerung, in der sich die Mauer jedoch plötzlich selbständig macht und die Erinnerung entzwei teilt. Das ist ebenso spannend, wie mit einer Schere zu spielen und die Schnipsel auf beiden Seiten hinabsegeln zu sehen. Spannend, ein und dieselbe Sache von zwei Seiten zu betrachten. Sprache ist jedoch nicht so leicht zu teilen. Stattdessen sollten wir sie wie eine Mauer im Gedächtnis errichten, sollten häufiger an der Mauer spielen, denn alles, was das Gedächtnis leistet, ist: zu vergessen.

Der Potsdamer Platz (Gedicht Nr 14)

Die Angst ist ein Engel auf dem Potsdamer Platz das Schicksal ist eine Uhr darüber die Piraten der Zukunft sind nicht die ersten, die hier gelandet sind eilig reißt uns das Vergessen fort, schneller als jedes gestohlene Schiff das Vergessen nach einer langen Trauer, wie nach einem atomaren Beschuss des Gedächtnisses ohne Flagge gelangen wir zum Potsdamer Platz unter dem Schirm wandeln die Zinngespenster von Zeitreisenden unser weißer Rauch steigt auf vom Krematorium Zinnglanz wandert umher in unserer Abwesenheit leblose Gedanken herrschen auf Glas Höllenhunde bellen nicht auf dem Potsdamer Platz nicht von Müttern geboren werden Helden auf diesem Platz Verbrechen sind zahnlos hier die Flügel des Schicksals sind gestutzt auf dem Potsdamer Platz und die Zukunft kennt keine Schuld, keinen Gott und keinen Tod gefühllos erleiden wir Schmerzen auf dem Potsdamer Platz sprachlos reden wir auf dem Potsdamer Platz Glückseligkeit ist ein Händler auf dem Potsdamer Platz Hass hat keine Dornen auf dem Potsdamer Platz Liebe ist harmlos auf dem Potsdamer Platz Nichts hinterlässt Reste auf dem Potsdamer Platz Höllenhunde bellen nicht auf dem Potsdamer Platz nicht von Müttern geboren werden Helden auf dem Potsdamer Platz die Angst ist ein Engel auf dem Potsdamer Platz.

Mein Freund Brecht (Gedicht Nr 15)

Mein Freund Brecht saß auf dem Thron eines Imperiums, schlief in einem schmalen Bett und trug proletarische Kleidung aus teueren Stoffen. Er konnte gut sitzen, gut schlafen und sich gut kleiden. Er konnte fast alles gut und brauchte kein Opfer zu bringen an diesem Ort, an dem kein Klavier zu hören war und niemand lächelte, an dem nur ein Lachen unter den Zähnen der Schreibmaschinen knirschte. Sie waren allesamt Arbeiter, keine Sänger, und man konnte schwer erkennen, wer ihr Arbeitgeber war oder ihr Gott. Doch sie erschienen in ihrer proletarischen Kleidung, um die Arbeit zu erledigen, die Könige und Philosophen liegen ließen. Der Hammer, den sie bei sich trugen, war ihre einzige Philosophie, und den Amboss, den sie mitbrachten, erhoben sie an die Spitze der Weisheit. Sie verstanden sich auf Kabel und Blech, woraus sie die Spiele gossen, die später zu Monstren wurden. Dennoch bleibt unvergessen, dass die Proletarier in die Geschichte eingegangen sind. Dass die Weisen, die auch Gaukler und Priester waren, den Hammer an die Spitze des Tempels beförderten. Mein Freund Brecht ruht in Freiheit unter zwei Gedenksteinen. Er kann gut schlafen.

Unerfülltes Begehren (Gedicht Nr 17)

Das Laub, das sich tiefrot färbt, bevor es fällt, und das Verlangen, das entflammt und ungestillt bleibt, reiben wir uns in die Haut, während im Stoff unserer Hemden herbstliche Kälte atmet. Wir sehen die Haufen, vermögen unsere Lust jedoch nicht einfach auf die Straße zu werfen, wir leiden allein um der dichten Asche willen, die einem unerfüllten Begehren entströmt.

Das Schicksal des Imre Kertez (Gedicht Nr 19)

Imre Kertez ging an der Gaskammer vorüber; dort blickte er auf sein Schicksal und sollte ihm kein zweites Mal ins Auge sehen. Seinen Körper nahm er danach in Arbeitslagern entgegen und lernte aus der langen Wunde am Bein. Sein Leben entdeckte er erst nach und nach. Stets fand er es gebunden an etwas anderes, stets in einem anderen Lager. Sein Schicksal entwandt sich ihm wie die Gaskammer, sein Leben entwandt sich ihm wie die Gaskammer, beides bekam er nicht zu fassen, obgleich alles in einem Loch unter seiner Kniescheibe verborgen lag und sämtliche Vorboten an seinem Körper hafteten. Sein Schicksal wiegt schwerer als er selbst, sein Leben ist ein Loch neben dem Herzen. Dennoch sollte es verloren gehen unter den umherirrenden Schicksalen derer, die ihr Leben in der Gaskammer verloren haben. Sein Leben sollte in dem Loch neben dem Herzen stecken, er sollte damit weitergehen und es trotzdem nicht sehen. Sein Leben sollte wie die Rückkehr eines toten Freundes sein oder wie eine Landkarte, die seine Peiniger im Holocaust zurückgelassen haben. Dein Schicksal wirst du nicht anderswo finden, Imre Kertez, suche es also nicht an einem anderen Ort. Deine Identität liegt unter deiner Zunge, und dein Rettungsseil steckt im Schulterblatt, suche also nicht an einem anderen Ort. Dein Schicksal wirst du nicht finden auf dem Weg nach Haifa. Lerne aus deiner Ironie. Gib dem Teufel niemals Rätsel auf und äußere nie einen Satz, der als Schlange wiederkehren könnte.

Der Weinfleck (Gedicht Nr 21)

Es ist ein intensiver Fleck. Je mehr ich ihn auszuwaschen suche, desto deutlicher und größer wird er. Fehler leben lange und hinterlassen große Flecken. Es ist eine schlechte Methode, Erinnerungen zu erschaffen, indem man überall eingreift. Wein, so erklärt die Putzfrau, hat eine noch viel stärkere Wirkung, wenn man sich nicht vorsieht. Sich vor dem Fleck zu fürchten, genügt nicht. Und mit dem Versuch, ihn zu vertuschen, macht man alles nur noch schlimmer. Der Fleck wird dich überdauern an diesem Ort, an dem man dir alles verzeiht und nicht jeden Fleck reinigt. Er wird dich überdauern, ohne dass du je in Erfahrung bringst, was er deinen Nachfolgern über dich verraten wird, außer dass du nicht aufpasst, dein Glas versehentlich umstößt und sich dein Leben in einen gewaltigen Fehler verwandelt, der sich als Fleck in jenem Zimmer verewigt. Vielleicht wirst du auch nicht begreifen, dass du überall Flecken hinterlassen hast. Dass deine Gedanken mehr Flecken verursachen als dein Wein. In der Brust trägst du eine Wunde, die sich auf der Haut ausbreitet. Wie weit du dich auch entfernen magst, an jenem Ort bleibt dein Leben einsehbar und verdächtig