Abbas Beydoun

Globalisierung bedeutet für die arabische Welt weniger die Dominanz der Vereinigten Staaten als eine Niederlage Europas, meint der libanesische Essayist und Dichter Abbas Beydoun. Die zweitrangig gewordenen ehemaligen Kolonialherren haben damit als traditioneller Maßstab für eigene Größe und Unvermögen ausgedient.
Orientierungslos und in sich zerrissen suchen die muslimischen Gesellschaften ihre Identität in der modernen Welt.

Abbas Beydoun, Foto: Larissa Bender Was 'McDonaldisierung' meint, wird fast weltweit auf Anhieb verstanden. Womit der Begriff an sich schon Beleg der globalen kulturellen Vereinheitlichung ist, für die er steht. Die Verwerfungen und den Orientierungsverlust in der arabischen Welt vermag er jedoch nicht in Ansätzen zu beschreiben.

McDonald's, diese vermeintliche Provokation für unsere Bauern und Intellektuellen, ist nur ein kleines Glied in einer langen Kette tiefgreifender Veränderungen. Unsere gesamte Ernährung hat sich innerhalb von Jahrzehnten völlig verändert.

Ebenso unsere Kleidung, unsere Einrichtung, unsere Bauweise, unser Leben und die Art und Weise, unsere Zeit und Freizeit zu verbringen. Die moderne Hose, die den Qunbaz verdrängte, jenes weite, traditionelle Kleid aus alter Zeit, war seinerzeit mit Sicherheit ein größerer Eroberer als McDonald's.

Hass auf den Westen

Der Widerstand auf der Ebene des täglichen Lebens war nicht sonderlich groß, dafür umso mehr auf der geistigen. Während die konkreten Veränderung des Alltags ohne große Schwierigkeiten vonstatten gingen, wuchs zugleich der Hass auf die westlichen Eroberer umso stärker – begleitet vom Hass auf das Selbst, das dieses Virus aufnahm und es sich in seinem Innern ausbreiten ließ.

McDonald's mag die Europäer noch provozieren, die Araber aber längst nicht mehr. Sie leben schon seit langem mit europäischen Marken, das Hinzukommen amerikanischer Produkte und Firmen spielt da auch keine Rolle mehr.

Eine Lebensweise, eine Kultur ist im Laufe von Jahrzehnten völlig zusammengebrochen. Die Literatur, die Künste, die Musik und das Denken haben sich verändert.

Wir sind dabei weder westlich noch ein Teil des Westens geworden. Es scheint, als ob sich all diese Veränderungen in einem Dämmerzustand zugetragen hätten, so als ob sie nicht unsere eigene Geschichte wären.

Das in einem Teil unserer Literatur verbreitete Bild der Vergewaltigung verdeutlicht die Vorstellung, dass wir uns von uns selbst entfremdet oder in etwas verwandelt haben, dass niemandem ähnlich ist, weder uns selbst noch dem Westen.

Ein Leben im Spiegelkabinett

Unsere Kultur lässt sich nicht einfach nach einem modernen und einem traditionellen Teil unterscheiden. Beides fließt ineinander. So mögen die Armen der Städte ihre ländliche Herkunft vergessen haben, doch begraben werden sie eines Tages mit Sicherheit wieder in ihren Dörfern, neben jenem Stück Erde, das sie verlassen hatten, weil es ihnen nicht mehr genügte.

Und ausgerechnet die die Tradition hochhaltenden Prediger, Geistlichen und Islamisten wissen möglicherweise mehr als alle anderen um die Wirksamkeit der moderner Medien und wie man sie nutzt.

Zugleich gibt es Ingenieure, Ärzte und moderne Dichter, die religiösem Aberglauben anhängen, und Politiker, die sich für ihre Entscheidungen Rat von Wahrsagerinnen holen. Es gibt keine Spaltung in alt und neu.

Der Dualismus wohnt vielmehr in jedem Einzelnen. Wir befinden uns in einem Spiegelkabinett, in dem Traditionelles, Neues, Soziales, Politisches und Ideologisches sich vermischen.

Die Säulen unserer Gesellschaft – die Sippen, die Konfessionen, die Parteien, die Gewerkschaften und das Militär – leben im fortwährenden Übergang und ohne Tradition im Sinne einer Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln und zur Grundlage rationalen Handelns zu machen.

Als lebten sie ohne Kurzzeitgedächtnis, ohne eine wirkliche Vorstellung über die jüngere Zeitgeschichte. Die Gegenwart dagegen wird betrachtet, als sei sie Zukunftsmusik.

Weil wir aus den Erfahrungen nicht lernen, kehren wir immer wieder zum Alten zurück. Der Islamismus genau wie die Geschichte sämtlicher arabischer politischer Systeme sind Beispiele für diese fruchtlose Wiederholung.

Das Vergessen der Gegenwart

Es geht nicht um Tradition und Moderne, sondern um das Vergessen der Gegenwart und den Schock, der hieraus folgt. Gelebtes und Gedachtes passen nicht zusammen. Unser Denken kreist um Wünsche und Begehren und nicht um die Wirklichkeit im Hier und Jetzt oder in der Geschichte.

Die Traditionen zerbrechen, aber sie bleiben als Idee und Prinzip bestehen. Die tatsächliche Vergangenheit ist unbedeutend, wichtig ist die Idee der Vergangenheit. Auch Modernisierung existiert nicht als konkrete Möglichkeit, sondern als abstraktes Prinzip.

In dieser Situation kann sich die Ideologie frei und unabhängig von jeglicher Prüfung der Realität und Erfahrung ausbreiten und zu Parolen gerinnen, die unhinterfragt verherrlicht und papageienartig von der Masse wiederholt werden.

Anstelle der Gedanken dominieren Gefühle – von Zermalmung, Minderwertigkeit und Groll –, aber auch der Wunsch nach Selbstbestätigung oder gar die Illusion der Erhabenheit.

Der Westen ist Kristallisationspunkt all dieser gegensätzlichen Leidenschaften. Er ist der Vergewaltiger, dessen Tat wir nicht vergessen können, und er ist das unerreichbare Ideal zugleich.

Während wir ihn um Anerkennung anflehen, lassen wir zugleich die Zügel unseres Größenwahns vor ihm schießen. Seine symbolische oder tatsächliche Tötung erscheint einigen als die einzige Lösung, um das sinnlose Hinterherlaufen zu beenden.

Diese Innenwelt existiert ganz ohne Bezug zur Realität, weshalb sich beispielsweise Saddam Hussein und Bin Laden einbilden, dass es in ihrer Macht stehe, die ganze Welt zu bekriegen.

Legitimationsgründe finden sie in der kolonialistischen Geschichte zur Genüge. Es ist eine Geschichte von Plünderung, Verachtung, Entwurzelung und Vertreibung im Namen eines angeblich zivilisatorischen Ideals.

Das Problem mit dem Westen geht tief, weil es das Selbst verletzt, das sich aufgrund der Stärke seines Feindes amputiert oder überwältigt fühlt und unfähig ist, einen eigenen Namen oder eine Identität zu finden.

Die tiefe Verachtung, die sie durch den Westen erfahren hat, verschärft die Gleichgültigkeit der arabischen Welt gegenüber sich selbst und die Selbstquälerei, in der sie gefangen ist.

Globalisierung als Niederlage Europas

Globalisierung bedeutet für sie nicht in erster Linie die Dominanz der Vereinigten Staaten, sondern vor allem die Niederlage Europas. In einer Welt, in der selbst die ehemaligen Kolonialherren zweitrangig geworden sind, gibt es für viele arabische Intellektuelle keine Hoffnung mehr.

Da Europas Bedeutung hinter der amerikanischen Präsenz verblasst, kann es nicht mehr als Maßstab für die eigene Stärke oder Schwäche dienen. Die Globalisierung macht so die Verbindung von Verletzung, Unterwürfigkeit und Größenwahn noch komplizierter und verstärkt die Resignation.

All dies zeigt, dass unsere Probleme mit uns selbst und mit dem Westen zuallererst seelischer und symbolischer Natur sind. Wer sie lösen will, muss hier ansetzen. Solange dies nicht geschieht, bedeutet den islamischen Völkern alle wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit gar nichts.

Ein wichtiger, wahrscheinlich sogar der Dreh- und Angelpunkt schlechthin eines symbolischen Ausgleichs ist das Verhalten des Westens im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern.

Die Bevorzugung Israels erleben die islamischen Völker als Sinnbild für Verachtung und kolonialistische Vergewaltigung. Israel ist für die Völker des Nahen Ostens kein orientalisches Land, sondern ein verlängerter Arm des Westens.

Seine Bevorzugung bedeutet die ständige Wiederholung der Überlegenheit und der Nicht-Anerkennung, ja sogar der westlichen Eroberung, die die Araber und Muslime schwächt und lähmt. Israel ist für sie der Testfall westlicher Glaubwürdigkeit.

Das Gerede über kulturelle und zivilisatorische Gleichheit hat keinerlei Bedeutung für diejenigen, die Tag für Tag in der
Unterlegenheit der Palästinenser das Symbol ihrer eigenen Schwäche und Missachtung erkennen.

Wenn ein ernsthaftes Interesse an einer Aussöhnung mit dem Islam besteht, dann muss hier an diesem symbolischen Erbe der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident angefangen werden.

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Aus dem Arabischen von Monique Bellan
© Zeitschrift für KulturAustausch

Abbas Beydoun, geb. 1945 im Libanon, ist Lyriker und Journalist. Derzeit arbeitet er als Feuilletonchef bei der libanesischen Zeitung As-Safir.

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